In deutschen und internationalen Medien erscheint der Konflikt in und um Berg-Karabach nicht in seinen menschenrechtlichen Dimensionen, sondern als zwischenstaatlicher Konflikt der beiden südkaukasischen Länder Aserbaidschan und Armenien.

Dagegen wehren sich Fachwissenschaftler_innen.

Wir veröffentlichen als Beispiel den Offenen Brief einer Münchener Osteuropahistorikerin:

An die Redaktion der Tagesschau
Offener Brief

Arpine Maniero
Osteuropahistorikerin in München
arpi.maniero@gmail.com
München, den 04.04.2016

Sehr geehrte Damen und Herren,

unter der Überschrift „Pulverfass im Südkaukasus“ versucht die Redaktion der Tagesschau, die Hintergründe des Bergkarabach-Konflikts aus dem Anlass der neuesten Eskalation zu erläutern (http://www.tagesschau.de/ausland/kaukasus-armenien-aserbaidschan-konflikt-berg-karabach-101.html).

Vorbehaltlich der Tatsache, dass mit diesen knappen Zeilen eine so komplizierte Situation nicht objektiv dargestellt werden kann, kann dieser Beitrag eines öffentlich-rechtlichen Nachrichtendienstes nur für Empörung sorgen. So eine Ausführung klärt die gegenwärtige Situation keinesfalls auf, sorgt dagegen aber für weiteren Unmut.

(Zur Situation in Berg Karabach sehen Sie bitte die Pressemitteilung der Arbeitsgruppe Anerkennung e.V. unter: https://www.aga-online.org/berlin-03-april-2016-pressemitteilung-der-arbeitsgruppe-anerkennung-anlaesslich-aserbaidschanischer-angriffe-in-berg-karabach/)

Die Tatsache, dass dieser vielschichtige und mit diversen historischen Zäsuren belastete Konflikt nicht auf die eindimensionale Ebene einer christlich-muslimischen Kontroverse herunterreduziert werden darf, sei dahin gestellt. Vor dem Hintergrund der heutigen konfliktgeladenen Situation mit Extremismus und Terrorismus, die vermeintliche Experten – trotz zahlreicher Analysen von Religionswissenschaftlern, Politikern, Philosophen, Soziologen, Islamwissenschaftlern etc. – immer noch zu einem rein religiösen Konflikt zwischen Islam und Christentum abzutun versuchen, ist so eine Stigmatisierung des Konflikts zwischen Bergkarabach und Aserbaidschan Seites der Tagesschau-Redaktion einfach nur unverantwortlich.

Genauso unverantwortlich, ja gefährlich ist die Verbreitung von einseitigen und fehlerhaften Informationen, die die Redaktion wahrscheinlich damit erklären würde, die Situation möglichst kompakt darstellen zu wollen. Es braucht nicht viel Zeit und Mühe, um zu recherchieren, dass der Konflikt militärisch nicht erst nach der Wende ausbrach, sondern dass es bereits in den 1890er Jahren und in den Jahren 1905-1906 blutige Auseinandersetzungen um dieses Gebiet gab. Diese Gefechte waren nicht zuletzt der Grund dafür, dass die Frage um Bergkarabach – zusammen mit den Gebieten Nachidjevan und Zangezur – immer wieder auf der politischen Tagesordnung der europäischen Großmächte landete. Im Unterschied zum Gebiet Zengezur, das Armenien militärisch halten konnte, wurde Nachidjevan mit dem Vertrag vom 16. März 1921 in Moskau als autonome Region an Aserbaidschan angeschlossen. Um Bergkarabach entschied später allein das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, wonach das Gebiet im Juli 1921 als weiteres autonomes Gebiet Aserbaidschan übergeben wurde. Genau genommen hatte dieses Gebiet also einen autonomen Status innerhalb der Aserbaidschanischen SSR.

Weiter schreiben Sie: „Daraufhin nahmen die Spannungen immer mehr zu – bis 1992 ein Krieg um das rund 12.000 Quadratkilometer große Gebiet ausbrach.“ Woraufhin nahmen die Spannungen – wenn ich fragen darf – genau zu? Auf die zahlreichen – friedlichen – Demonstrationen in Armenien hin, die als Reaktion auf die vom Zentrum verkündeten Glasnost‘ Ende der 1980er Jahre spontan ausgebrochen waren? Auf die harsche Reaktion des Zentrums hin, das auf die Proteste militärisch reagierte? Oder vielleicht auf die Pogrome der armenischen Bevölkerung in Baku und Sumgait hin, denen nach unterschiedlichen Angaben hunderte friedliche Menschen zum Opfer fielen? Und wenn Sie die Flüchtlinge aus Bergkarabach zählen, würde es sich allein der Objektivität halber nicht gebühren zu erwähnen, dass die gesamte armenische Bevölkerung von den Städten Baku, Sumgait, Kirovabad, aber auch aus ganz Aserbaidschan vertrieben wurde?

Der Krieg fing nicht 1992 an; der Krieg hatte eine von blutigen Auseinandersetzungen geprägte Vorgeschichte, die zahlreiche Opfer auf beiden Seiten forderte.

Zu guter Letzt möchten Sie behaupten, die scheinbare Einigung sei nie wirklich zur Realität geworden und Bergkarabach würde sich in Händen „armenischer Truppen und Milizen“ befinden. Der Frieden ist aber trotz der regelmäßigen Angriffe Aserbaidschans doch Realität geworden. Der Beweis dafür ist, dass in Bergkarabach ein Staatswesen aufgebaut wurde, gleichgültig, ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht. Die Städte wurden wieder aufgebaut, es gibt Schulen, Universitäten, Wirtschaft, Politik und Wahlen, die im Übrigen regelmäßig von ausländischen Beobachtern überwacht werden. Bergkarabach ist ein de facto unabhängiger Staat mit eigenem Militär, das die eigenen Grenzen zu schützen versucht.

Was den vermeintlichen Rückhalt angeht, den Armenien von seiner „Schutzmacht“ Russland angeblich erfährt, so möchte ich Ihre Redaktion auch hier dringend von solch unprofessionellen Bewertungen warnen. Russland fungiert als der strategische Partner Armeniens genauso wie die Türkei der strategische Partner Aserbaidschans ist. Und dennoch verkaufte Russland an Aserbaidschan seit 2010 und bis Ende 2015 Waffen und Rüstung im Wert von beinahe 5 Milliarden Dollar. Dagegen war die einzige Einmischung Russlands in dieser erneuten Eskalation bis jetzt die Ermahnung von Vladimir Putin an beide Seiten, den Frieden zu achten, während die Türkei ihre bedingungslose Unterstützung gegenüber Aserbaidschan bereits mehrmals offiziell zugesichert hat.

Ihr Fazit, dass sämtliche Versuche, in Bergkarabach einen endgültigen Frieden zu bringen, bis jetzt scheiterten, ist sicher richtig. Dies ist aber nicht zuletzt ein Resultat jener Politik, die darauf basiert, viele Tatsachen medienwirksam zu verdrehen und über andere stillschweigend hinwegzusehen.

Mit freundlichen Grüßen,
Arpine Maniero