TERTELÊ DERSIM 1937/38

Die dunkelste Seite in der Geschichte der Republik Türkei:

Dersim sucht man vergeblich auf offiziellen Landkarten der Türkei, ebenso wie in den meisten Büchern, die dort erscheinen. Der Soziologe Ismail Besikçi, der 1990 in Istanbul ein Buch über das Tabu und Hassobjekt Dersim veröffentlichte, rief damit umgehend die Zensur auf den Plan.

Dersim ist ein schwer zugänglicher Gebirgsriegel in einer Region, die je nach Standpunkt als Kleinasien, Osttürkei, Westarmenien oder nördliches Kurdistan betrachtet wird. Vor 70 Jahren besaß es eine deutlich eigenständige regionale Identität; die meisten seiner höchstens 150.000 Bewohner empfanden sich nicht als Kurden, sondern als Dersimli; ihre Sprache Zazaki hob sie aus der kurdischen bzw. iranischen Sprachgemeinschaft hervor, ebenso wie besondere Gebräuche und Glaubenspraktiken sie innerhalb der großen alevitischen Gemeinschaft hervorhoben. Die Bevölkerung der heutigen Provinz Tunceli setzt sich zu etwa 75% aus alevitischen Zazas, zu 20% aus Kurden (Kurmanc) und zu 5% aus Armeniern sowie und Turkmenen zusammen. Die Mehrheitsbevölkerung der alevitischen Zaza wird im Türkischen auch als „kizilbas“ („Rotkopf“) bezeichnet.

Surp Garabet Monastery, or Halvori Vank in Dersim 1911
Surp Garabet Monastery, or Halvori Vank in Dersim 1911

© By Captain I. Molyneux-Seel, a Jornary in Dersim

Gleichwohl wurden die Dersimli Opfer der kemalistisch-türkischen Kurdenpolitik: Der „Nationalpakt“ ((Misak-i Milli), der den Kemalisten während ihrer Kämpfe gegen die alliierten Sieger sowie die noch verbliebenen osmanischen Christen das Bündnis mit kurdischen Stämmen sicherte, zerfiel, nachdem sich die Führung des türkisch-republikanischen Einparteienstaates für einen unitären, säkularen und ethnonationalistischen Staat entschieden hatte. Die wachsende Benachteiligung und Ausgrenzung der Kurden als zweitgrößten Nation dieses Staates führten 1925 und 1928 zu brutal unterdrückten regionalen Aufständen, die zwar den türkischen Staat nicht in seiner Existenz bedrohten, ihm jedoch als Vorwand einer Politik der Assimilation und Zwangsumsiedlung dienten – aus Sicht der kemalistischen Staatsführung zugleich ein Kampf des Fortschritts und der Zivilisation gegen Rückständigkeit und vormoderne Stammesgesellschaften. Forcierter Straßen- und Brückenbau, Polizeiposten und Verwaltungsgebäude der Regierung in jedem größeren Dorf sollten die Kontrolle des türkischen Nationalstaates über sämtliche Regionen festigen.

Dersim kam von Anfang an ein besonderer Stellenwert bei Unterwerfung und Kolonialisierung Kurdistans zu, – vielleicht, weil zahlreiche Dersimli von Armeniern abstammten oder auch aus Rache dafür, dass die Region ab 1915 Zuflucht für viele von Genozid bedrohte Armenier geworden war. Bereits 1925 umschrieb ein Bericht des Innenministeriums Dersim als “Abszess, (den) die republikanische Regierung … operieren muss, um größere Schmerzen zu verhindern.“ Wie schon zuvor bei der Vernichtung der christlichen Bürger des Osmanischen Reiches – Armenier, Aramäer/Assyrer und Griechen – wurde vereinzelter Widerstand gegen die staatlichen Behandlungsmethoden als Begründung für die umfassende Zwangsumsiedlung und Zersiedlung ganzer Regionen genommen. Das „Gesetz zur Umsiedlung“ (14.06.1934) sah die landesweite Türkisierung durch die Zersiedelung nicht-türkischer Mehrheitsgebiete bzw. deren vollständige Entvölkerung aus vorgeschobenen „gesundheitlichen, ökonomischen, kulturellen, militärischen und sicherheitstechnischen Gründen“ vor (siehe Anhang). Im selben Jahr wurde Dersim offiziell in Tunceli umbenannt – nicht einmal ein Ortsname sollte an dieses Gebiet erinnern. Die neue Gebietskörperschaft Tunceli (7.774 qkm) fiel flächenmäßig deutlich kleiner als der frühere Bezirk aus.

Im Dezember 1935 verabschiedete die Große Nationalversammlung ein Sondergesetz zu Tunceli, das den Bezirk einem bevollmächtigten Militärgouverneur unterstellte, der nach eigenem Gutdünken Festnahmen und Deportationen von Personen und ganzen Familien anordnen durfte. Diese Sonderregelung begründete der damalige Innenminister Sükrü Kaya mit der angeblichen Gesetzlosigkeit der Region. Elf militärische Vorstöße ehemaliger Regierungen „zur Heilung dieser Krankheit“ seien gescheitert.

1936 wurde Dersim unter Militärverwaltung gestellt, um es zu „zivilisieren“. Als im März 1937 Telefonleitungen durchtrennt und eine Holzbrücke abgebrannt wurden, diente dies als geringfügiger Anlass für eine militärische Strafexpedition. Ein Geheimbeschluss des Ministerrats vom 04. Mai 1937 stellte fest, dass hierbei eine „Endlösung“ angestrebt werden, denn die Armee sollte jene, „die Waffen benutzt hatten oder benutzen, ein für alle Mal an Ort und Stelle unschädlich machen, vollständig ihre Dörfer zerstören und ihre Familien entfernen.“ Da praktisch jeder Mann in Dersim eine Waffe trug, kam diese Formulierung einem generellen Tötungsbefehl gleich, obwohl nur fünf von insgesamt etwa einhundert Stämmen der militärischen Strafexpedition überhaupt Widerstand entgegensetzte.

Der aus Dersim stammende Tierarzt und Aktivist der kurdischen Nationalbewegung, Dr. Mehmet Nurî Dersimî (1) (*1893 in Axzonike; †22. August 1973 in Aleppo), der bereits 1915 in Erzincan Augenzeuge von Massakern an Armeniern geworden war und 1937/38 zahlreiche Verwandte beim Genozid in Dersim verlor, berichtete, dass sich die Frauen und Kinder jener Stämme, deren Männer gegen die Armee kämpften, in Höhlen versteckten: „Tausende dieser Frauen und Kinder kamen um, weil die Armee die Höhleneingänge vermauerte. Dieser Höhlen sind auf den Militärkarten der Region mit Zahlen versehen. An den Eingängen zu anderen Höhlen entfachte das Militär Feuer um jene im Innern zu ersticken. Wer aus den Höhlen zu fliehen versuchte, wurde mit dem Bajonette niedergemacht. Ein Großteil der Frauen und Kinder [der Stämme] Kureyschan und Bachtijar sprang von den hohen Klippen in die Schluchten des Munzur und Partschik, um nicht den Türken in die Hände zu fallen.(…) Weil die Kirgan den Türken vertrauten, wurden sie vernichtet. Ihre Häuptlinge wurden gefoltert und dann erschossen. Alle die zu fliehen versuchten oder Zuflucht bei der Armee suchten, wurden zusammen getrieben. Die Männer wurden auf der Stelle erschossen und die Frauen und Kinder in Scheunen gesperrt, die man in Brand setzte.“

Von der Entschlossenheit zur ausnahmslosen Vernichtung spricht auch der Umstand, dass keines der türkischen Waffenstillstandsangebote oder gar Amnestie- oder Kompensationsversprechungen eingehalten wurde. Hiervon ließ sich auch der greise Stammesführer Pir Sey Riza (*1862 in Derê Arí/Landkreis Ovacik; †1937) täuschen, der schnell als Anführer des Aufstandes denunziert worden war. Bei Wintersanbruch stellte er sich mit 50 Getreuen in Erzincan ein, wurde jedoch umgehend verhaftet und am 16. (nach anderen Angaben: 18.) November 1937 (2) gemeinsam mit elf weiteren zum Tode Verurteilten, darunter sein Sohn Resik Hüseyin, in Elazig erhängt. Ihsan Sabri Çaglayangi, der als junger Beamter das Eilverfahren gegen Sey Riza und seine Mitangeklagten organisiert hatte und später zum Außenminister der Türkei aufstieg, überlieferte in seinen Memoiren die letzten Worte Sey Rizas, bevor dieser sich selbst die Schlinge um den Hals legte: „Wir sind Kinder Kerbelas. Wir haben nichts verbrochen. Es ist eine Schande. Es ist grausam. Es ist Mord. (3)

Trotzdem setzte das Militär im Frühjahr 1938 seine Strafexpedition fort, in noch größerem Umfang. Die Stämme der Karabal, Ferhad und Pilwank, die sich ergeben hatten, wurden trotzdem vernichtet. Die Frauen und Kinder auch dieser Stämme wurden lebendig in Scheunen verbrannt. Selbst Angehörige von Stämmen, die wie die Pilwank und Asagi Abbas stets regierungstreu geblieben waren, wurden erschossen. Im Dorf Irgan wurden die Frauen und Mädchen zusammen getrieben, mit Benzin übergossen und in Brand gesetzt.

Chetsch, das Hauptdorf des Stammes von Scheich Mehmed, der sich bereits ergeben hatte, wurde nachts angegriffen und sämtliche Einwohner mit Maschinengewehren und Artilleriebeschuss getötet. Die Einwohne des Städtchens Hozat und alle Angehörigen des Karaca Stammes wurden bei einem Militärlager bei Hozat mit Maschinengewehren niedergemäht. Gegen Ende des Sommers 1938 wurden auch die Hormekan, Kureyschan und Alan des Bezirks Nazimiye und Teile der Bamasuran von Mazgirt vernichtet und ihre Leichen verbrannt. Selbst junge Rekruten aus Dersim, die ihren Wehrdienst in der türkischen Armee leisteten, wurden erschossen. Nach amtlichen Angaben starb fast ein Zehntel der Bevölkerung Tuncelis – bis zu 12.000 Menschen –, nach Schätzung der Dersimli lag die Opferhöchstzahl bei 70.000. Im September 1938 fasste der britische Konsul zu Trabzon, der die Vorgänge in Dersim mit den Massakern an den Armeniern verglich, die Ereignisse zusammen und betonte das brutale und unterschiedslose Vorgehen der Armee:

“Tausende Kurden einschließlich Frauen und Kinder wurden erschlagen; andere, meist Kinder, in den Euphrat geworfen; während Tausende andere in weniger feindseligen Gebieten erst ihres Viehs und anderen Besitzes beraubt wurden, und dann in Vilayets (Provinzen) in Zentralanatolien deportiert wurden. Jetzt heißt es, dass die Kurdische Frage nicht mehr länger in der Türkei existiert.“ (4)

In das kollektive historische Gedächtnis der Dersimer gingen die Massaker und Deportationen der Jahre 1937/38 als Tertelê (Vernichtung) ein.

Die Provinz Tunceli ist inzwischen eine fast entvölkerte Region (2007: 84.000 Einw.), die die höchste Auswanderungsquote in der Türkei aufweist und auch nach 1938 Vertreibungsdruck ausgesetzt blieb: Unter dem Vorwand der Wiederaufforstung sollte 1987 über die Hälfte der 434 Dörfer in die Westtürkei umgesiedelt werden. 1993 bis 1995 vertrieb türkisches Militär erneut zahlreiche Einwohner Tuncelis aus ländlichen Gebieten. Gegenwärtig bedroht ein wirtschaftlich unnützes und ökologisch bedenkliches Projekt zum Bau von insgesamt acht Staudämmen am Fluss Munzur die dortige Umwelt. Infolgedessen leben mehr Dersimer in der Diaspora, darunter zahlreich in Deutschland, als in ihrer Heimat.

Anhang

Amtliches Nachrichtenblatt der Türkei vom 21. Juli 1934:

„Um die türkische Kultur zu verbreiten, wird die Regierung das oben genannte Gesetz nach bestimmten Punkten verwirklichen. Dazu hat das Innenministerium die Türkei in drei Regionen aufgeteilt:

  • Diejenigen Regionen, in denen die türkische Kultur on der Bevölkerung sehr stark verankert ist.
  • Diejenigen Regionen, wo diejenige Bevölkerung angesiedelt werden soll, die zu türkisieren ist (das sind die Gebiete im Westen, besonders am Mittelmeer, der Ägäis, dem Marmarameer und Trakya).
  • Diejenigen Gebiete, die aus gesundheitlichen, ökonomischen, kulturellen, militärischen und sicherheitstechnischen Gründen entvölkert werden müssen und in denen sich niemand mehr ansiedeln darf. (Das sind Agri, Sason, Tunceli, Van, Kars, der südliche Teil von Diyarbakir, Bitlis, Bingöl und Mus).

Entnommen: Aslan, Fikret; Bozay, Kemal, u.a.: Graue Wölfe heulen wieder: Türkische Faschisten und ihre Vernetzung in der BRD. 2., aktualisierte Aufl. (Münster:) Unrast, (2000), S. 38

Das Deportationsgesetz vom 14. Juni 1934 (Gesetz Nr. 2510):

Artikel 1
Um die Bevölkerungskonzentration der nicht türkischsprachigen Menschen zu verhindern und die bereits vorhandene aufzulösen, ist es notwendig eine Verbannung innerhalb des Landes vorzunehmen.

Entnommen: Eggers, Wilfried: Paragraf 301. Dortmund: Grafit, 2008, S. 8

In Artikel 9 des Deportationsgesetzes heißt es:
„Zigeuner und nichttürkische Nomadenstämme, die die türkische Staatsbürgerschaft haben, werden in den Regionen angesiedelt, in denen die türkische Kultur sehr stark verbreitet ist, jedoch nur in kleinen Gruppen. Wenn es die Sicherheit des Landes erfordert, können sie aus der Türkei ausgewiesen werden.“

Entnommen: Aslan, Fikret; Bozay, Kemal, u.a.: Graue Wölfe heulen wieder: Türkische Faschisten und ihre Vernetzung in der BRD. 2., aktualisierte Aufl. (Münster:) Unrast, (2000), S. 38

Artikel 11:
„Jene, deren Muttersprache nicht Türkisch ist, besitzen nicht das Recht, als eine Gruppe ein neues Dorf zu gründen oder Stadtviertel, Arbeiter- und Handwerkervereinigungen, noch dürfen solche Personen ein existierende Dorf, Viertel, Unternehmen oder Werkstätte für Angehörige derselben Rasse reservieren.“

Zitiert und übersetzt nach: Bruinessen, Martin van, a.a.O.; vgl. dort Fußn. 31

Weitere Literatur:
Besikçi, Ismail: Tunceli Kanunu (1935) ve Dersim Jenosidi [Das Tunceli-Gesetz (1935) und der Dersim-Genozid] Istanbul: Belge, 1990

Links zu Dersim:
http://de.wikipedia.org/wiki/Tunceli_(Provinz)
http://www.zazaki.de/deutsch/aufsaezte/dersim-genozid-memuismail.htm
http://www.unrast-verlag.de/unrast,2,45,2.html

(1) Vgl. auch Dersimî, Mehmet Nurî: Kürdistan Tarihinde Dersim (Dersim in der Geschichte Kurdistans). Aleppo 1952; Neudruck Köln 1988, ders., Hatiratim (Meine Memoiren). Stockholm 1986
(2) Andere Quellen benennen den 4., 8., 17. oder 18. November als Hinrichtungstag
(3) Ihsan Sabri Çaglayangil: Anilarim. Istanbul 1990, S. 47f. Zitat (mit Lücken) in der Tageszeitung Radikal, 21. Mai 2007
(4) Bericht des Konsuls zu Trabzon, 27 September 1938 (Public Record Office, London, FO 371 files, document E5961/69/44). – Übersetzt nach: Bruinessen, Martin van: Genocide in Kurdistan? The suppression of the Dersim rebellion in Turkey (1937-38) and the chemical war against the Iraqi Kurds (1988), in: George J. Andreopoulos (ed): Conceptual and historical dimensions of genocide. University of Pennsylvania Press, 1994, S. 142