TÜRKISCHE NACHT
P H I L I P P E V I D E L I E R
D I E G E S C H I C H T E V O N D E M S U L T A N U N D D E N D R E I P A S C H A S
Die alten Geschichten sollen eine Lehre für unsere Zeit sein, damit der Mensch erkennt, was andere als er erlebt haben:Dann wird er beachten und aufmerksam bedenken, was die früheren Völker gesagt und erfahren haben, und er wird sich bessern.Darum sei gepriesen, wer die von jenen erzählten Geschichten als eine Lehre für die Menschen unserer Zeit bewahrt.
Und als die Nacht kam, sagte er:
GLÜCKLICHER, wohlmeinender Leser! Mir ist zu Ohren gekommen, daß die Türkei in weit zurückliegenden Zeiten einen schlechten Ruf in Europa hatte. Darum freute sich Europa, als die Revolution kam. Nun gab sich die Türkei eine Verfassung und ein Parlament, und die Leute fielen einander wie wahnsinnig in die Arme. Auf den lauten und fröhlichen Straßen versammelten sich Strohhüte tragende Männer und Frauen mit oder ohne Kopfbedeckung. Europa war zufrieden. Die Türken ebenso. Und man kann sie verstehen. Denn die Türken sind ja ganz alltägliche Leute. Die neuen Machthaber sahen aus wie jedermann. Sie trugen Anzüge, Westen und Krawatten, oft einen Schnurrbart und manchmal einen Fes, denn der Fes war in der Revolutionszeit noch modern. Und sie äußerten sich zwanglos und gepflegt in mehreren Sprachen. Ihnen fehlten die Worte, die hart und streng genug gewesen wären, um das frühere Regime zu schildern, ein auf Blut und Eisen gegründetes Regime, das Regime des Sultans, des Tyrannen Abd-ül Hamid, jenes Mannes; dessen Gesicht niemand anblikken durfte. „Er hat kein schönes Äußeres, in moralischer Hinsicht ist er noch häßlicher“, versicherte einer der Männer des Tages, ein kultivierter Revolutionär, den seine Freunde „den Philosophen“ nannten, weil er Piaton, die Kabbala und selbst die Leitgedanken des Sozialismus kannte.
Nun war Sultan Abd-ül Hamid vor dem großen Umsturz, der ihn aus seinem Yildiz-Palast vertrieb, niemals in der Öffentlichkeit photographiert worden. Fortan wußte jeder, wonach er aussah. Die Photographie, die uns von ihm bleibt, wurde von einem Deutschen aufgenommen: Otto Kiel. Auf dem Bild warf der geschwächte Despot mit den abstehenden Ohren, dem abstoßenden Gesicht und den gekrümmten Schultern, der allein in seiner Kutsche saß, einen ängstlichen Blick auf die Menge, die ihn gerade entdeckte. Das Objektiv war grausam. Doch weitaus weniger grausam als der Sultan selbst, der die Untertanen des Osmanischen Reiches zu Tausenden mit entsetzlichen Foltern umgebracht hatte. „Sonst gebe ich meinen Fanatikern freie Hand“, pflegte der Sultan zu erwidern, wenn die internationale Gemeinschaft daran dachte, seine Herrschaftsmethoden zu mißbilligen. Manchmal hetzte er seine Fanatiker auf die Minderheiten, die in den Provinzen, Städten und Dörfern lebten, und aus der Ferne beobachtete er interessiert, welche Wirkungen seine Politik hatte. So etwas blieb nicht unbemerkt. „Die Stadt wird mit Feuer und Schwert verwüstet“, telegraphierte der französische Konsul von Diyarbakir an seinen Botschafter bei der Hohen Pforte (2. November 1895, ein Uhr morgens). „Teilen Sie mir dringend mit, welchen Grund diese jüngste Provokation hat. Sind die Armenier bedroht?“ erkundigte sich der besorgte Botschafter in seiner Rückantwort (am frühen Nachmittag desselben Tages). Eine weitere Meldung: „Der Großwesir behauptet, der Konflikt sei entstanden, weil die Armenier in die Moscheen eingedrungen seien. Ist das wahr?“ (2. November, 16 Uhr) Chiffrierte Antwort: „Daß die Armenier in die Moscheen eingedrungen sind, ist reine Erfindung. DasMassaker hat den ganzen Tag angedauert und ist offenbar noch lange nicht zu Ende. „Das Blutbad dauerte drei Tage und drei Nächte. Als sich die wütende Menge beruhigt hatte und die Toten eingesammelt wurden, als Diyarbakir wieder in seine urväterliche Apathie versank, verfaßte Konsul Meyrier einen ausführlichen Bericht über die Ereignisse, zu denen es an diesem Ort gekommen war. Er berechnete die Zahl der Toten, soweit ihm dies möglich war, und als moderner Statistiker führte er sie in einzelnen Kategorien auf, wie es den im Reich des Tyrannen Abd-ül Hamid üblichen Kriterien entsprach. Schismatische Armenier: 1 000 Tote, 1 500 geplünderte Häuser, 2.000 geplünderte und verbrannte Läden; katholische Armenier: 10 Tote; schismatische Syrer (Jakobiten): offiziell 36 Tote, tatsächlich 150, 200 geplünderte Läden; katholische Syrer: 3 Tote, 30 geplünderte und ausgeraubte Läden; Chaldäer: 14 Tote und 78 geplünderte Läden; Griechen: 3 Tote, 15 verbrannte Geschäfte; Protestanten: 11 Tote und 51 geplünderte Häuser. Der Konsul bezeichnete die Angreifer, die rasenden Mordbanden, die Handlanger des Pogroms manchmal als „Muslime“ und dann wieder als „Kurden“, was von den jeweiligen Umständen abhing, die ihm den einen oder den anderen Beinamen nahelegten. Überhaupt nicht im Zweifel war er sich allerdings über die Rolle, die die Behörden als Brandstifter gespielt hatten, angefangen mit dem Wali, dem Ortsgouverneur, der eine zwielichtige Person war. „Die Polizei und die Truppen haben nur eingegriffen, um gegen die Opfer vorzugehen“, konnte der Konsul aufgrund persönlicher Beobachtungen feststellen. In diesem Bezirk hatte man 119 Dörfer in Schutt und Asche gelegt, und der Konsul schätzte die Gesamtzahl der Toten und Vermißten auf 30 000. „Man berichtet von unerhört grausamen Akten. Diese Schreie — Hawar! Hawar! (Hilfe! Hilfe!) — klingen mir immer noch in den Ohren, und ich erschaudere, wenn ich daran denke.“ Niemand hätte zu sagen vermocht, was — Religion, Nationalität, Sprache, gesellschaftliche Stellung — diesen wilden Haß ursprünglich ausgelöst hatte, den der Sultan hin und wieder in mörderischen Fluten, in todbringenden Wellen hochschäumen ließ, wie es ihm beliebte. Schreie, Klagen und Tränen zerrissen in Diyarbakir, Trapezunt, Erzerum, Bitlis, Mus, Van, Charput, Malatya, Sivas, Adana, Urfa und Alexandrette Tag und Nacht die Stille… Aus jenen Landstrichen drangen Schreckensberichte und der Schatten des Todes herüber.
DA erhoben sich vereinzelte, aber einflußreiche Stimmen in Europa. Sie kamen aus Skandinavien, Deutschland, England und Italien, ja sogar aus Frankreich, dessen Außenminister mit dem Sultan liebäugelte, wofür er den Segen des Präsidenten hatte. Der Sozialist Jaures, jener Jean Jaures, den das Volk bewunderte und in die Nationalversammlung gewählt hatte, stieg auf die Rednertribüne und zeigte anklagend mit dem Finger: „Denn davon ist alles beherrscht:Der Sultan hat es gewollt, er hat die Massaker organisiert und geleitet.“ Und Jaures brandmarkte den Vernichtungskrieg, der die Türkei mit Blut besudelte. Jaures nannte den Sultan nur „den Hababschneider“ oder „den großen Mörder“. Andere, die zur Linken, zur Rechten und zum Zentrum gehörten, dachten ähnlich wie er. Clemenceau, der treue Diener der Republik, tadelte in L’Echo de Paris eine Welt, die so etwas zuließ: „Wenn man die Berichte über die wahnsinnigen Greueltaten liest, die vonglaubwürdigen Menschen mitgeteilt werden, fragt man sich, in welchen Zeiten wir leben und was die verfeinerteZivilisation eigentlich wert ist, deren Segnungen wir ständig loben. “ Doch der Sultan hatte den Beistand gewisser Kräfte gewonnen, und das trotz seiner Grausamkeit oder manchmal gerade ihretwegen. 1896, als die Empörung über die beispiellosen Massaker ihren Höhepunkt erreichte, erschien in Genf, dieser Hauptstadt des ruhigen Lebens, eine Broschüre, die zum Preis von einem Franken in den Kiosken und bei den größten Buchhändlern verkauft wurde. Der Autor des helvetischen Heftchens zeigte eine merkwürdige Vorliebe, die Sigmund Freud in seinem Wiener Kabinett zutreffend analysiert hätte: Er hatte sein Werk unter dem Namen „Der Alte vom Berge“ herausgegeben. Diese Persönlichkeit war ja in ganz Europa als der fürchterliche Führer der orientalischen Sekte der Assassinen bekannt, die in weit zurückliegenden Zeiten bestanden hatte. Voltaire hielt ihn zu seiner Zeit für „einen kleinen Räuberhauptmann“. Das wirkte wohl kaum schmeichelhaft. Unbestreitbar ist, daß der Alte vom Berge seinen unheilvollen Ruf dem Reisebericht verdankt, den der Venezianer Marco Polo 1298 seinem Gefährten Rusticiano da Pisa in einem Genueser Gefängnis vortrug. Das Manuskript zirkulierte in ganz Europa. Es wurde von Mönchen illuminiert, und Ritter, Grafen, Herzöge, Fürsten und Könige erhielten es als Geschenk angeboten. Später wurde es gedruckt: 1477 in Nürnberg, 1481 in Augsburg und 1485 in Antwerpen. (Eines dieser Exemplare nahm Christoph Kolumbus, der Großadmiral des Ozeanischen Meeres, an sich und versah es mit eigenhändigen Anmerkungen.) Die Aufteilung der Welt oder Das Buch der Wunder berichtete im 28. Kapitel über den Alten vom Berge: „Erwar zusammen mit dem von ihm beherrschten Volk ein Anhänger Mohammeds.Außerdem verfiel er auf die unglaubliche Bosheit, die von ihmerzogenen Männer zu Meuchelmördern und Totschlägern zu machen, die man gewöhnlich Assassinen nennt“ Noch erstaunlicher in Anbetracht des Pseudonyms, das der Nacheiferer Abd-ül Hamids gewählt hatte, wirkt die Tatsache, daß Marco Polos Buch der Wunder mit einer gefälligen Schilderung Armeniens und Turkmeniens beginnt, die der Reisende als glückliche und friedliche Landschaften beschreibt: „Es gibt tatsächlich zwei Armenien, nämlich Groß- und Kleinarmenien. Der König Kleinarmeniens regiert sein Land mit Gerechtigkeit, und er ist den Tataren unterworfen … Die Einwohner Turkomanias sind in drei Klassen zu scheiden. Zunächst die Turkomanen, die Muhammed verehren.Sie sind ein rohes Volk und haben ihre eigene Sprache … Die anderenKlassen sind Griechen und Armenier, die mit jenen vermischt in Städtenund festen Plätzen wohnen …“ Schließlich kam der Venezianer auf Großarmenien zu sprechen, eine schöne Provinz, die nach Mitternacht zu an Georgien und im Osten und Süden an ein Mossul genanntes Reich grenzte, „und Ihr sollt wissen, daß in diesem Großarmenien die Arche Noah auf einem großen und hohen Berge stehengeblieben ist.“ Ganz zweifellos hatten derartige Betrachtungen jedoch keinen Einfluß auf die glühenden Verehrer Abd-ül Hamids.
Der Alte vom Berge, der also in Genf zu neuem Leben erwacht war, um den Interessen des osmanischen Sultans zu dienen, behauptete, daß das ganze Geschrei, das man wegen der unglücklichen Armenier und der sie heimsuchenden Schicksalsschläge veranstaltete, das böswillige Werk mehr oder weniger anarchistischer und atheistischer Individuen, gefährlicher Anhänger von Kein Gott und keinen Herrn sei, die sich obendrein der britischen Diplomatie verkauft hätten. Der kaltblütige Autor wollte nun der Wahrheit — der des Sultans, der damals so starken Hohen Pforte — wieder zu ihrem Recht verhelfen. Und diese Wahrheit ließe sich leicht formulieren und ebenso mühelos begreifen. Abd-ül Hamid sei ein tugendhafter, um Gerechtigkeit bemühter Herrscher. Er wisse lediglich aus Erfahrung, daß sich Griechen, Armenier, Türken und Araber untereinander nicht verstehen könnten, sobald man sie zusammenbringe, und daß es in einem großen Reich nötig sei, sich so weitgehend wie möglich vor Konflikten zu schützen, und hierfür setze der Sultan seine Talente und Fähigkeiten ein. Wenn man es genau betrachte, so erklärt der scharfsichtige Genfer Beobachter, bestehe der letzte Grund für die betrübliche, mißliche, komplizierte Lage, die Europa zuweilen mit Kummer erfülle, in einem Problem, das man die „armenische Frage“ nennen müsse. Die Armenier, stellte der Bewunderer Abd-ül Hamids fest, seien besondere Wesen; um es offen zu sagen: eine schädliche Art von „nagenden Würmern“, die die Fundamente des Reiches untergrüben. Wenn die Muselmanen (so waren seine Worte) die Armenier hart angefaßt hätten, so sei das nur gerecht. Die Armenier seien notorisch raffgierige Wucherer, und die polnischen Juden, sagte er, wirkten im Vergleich zu ihnen wie miserable Pfuscher. Der Schreiberling der Hohen Pforte glaubte, er habe, um den westlichen Leser ganz zu beruhigen, den richtigen Vergleich gefunden, der geeignet sei, in Paris und London ebenso wie in Wien, Berlin oder Warschau verstanden, anerkannt und gebilligt zu werden: „Der Haß, der die Muselmanen von den Armeniern trennt, hat keinen anderen Grund als diese maßlose Ausbeutung, die jener durch die Juden in Frankreich, England, Polen und Österreich-Ungarn gleicht. Die religiöse Frage hat damit nichts zu tun, dieser Kampfheißt in Europa Antisemitismus, in der Türkei heißt er die armenischeFrage. Im Grunde ist es ein und dasselbe: the struggle for life.“ Der Verfasser war sich seiner Sache so sicher und hatte solches Vertrauen in seine Argumente und zu seinem Recht, daß er den Vergleich ohne jede Scham zur Prophezeiung steigern konnte. Wenn es „beispielsweise“, wettete er, eines Tages in Frankreich zu einer solchen Bewegung komme, „so gibt es wahrscheinlich keine Macht auf der Welt, die die Ausrottungder Juden als gerechte Vergeltung für die seit hundert Jahrenangehäuften Verbrechen verhindert“. Er bewies keine großen Geistesgaben, als er diese Vermutung anstellte, denn damals war das allgemeine Klima vom Zetergeschrei über den auf die Teufelsinsel deportierten Hauptmann Dreyfus bestimmt. Was nun die Gründe für die schlechte Behandlung betreffe, die Abd-ül Hamid und seiner Politik in der Öffentlichkeit zuteil werde, so müsse man sie, wie der neue Alte vom Berge glaubte, in dem dekadenten Geist suchen, der seiner Überzeugung zufolge in Europa grassierte, außerdem in den Herrschaftsgelüsten der Briten, die er unablässig anprangerte, in der Zaghaftigkeit Italiens, „das stets bereit ist, sich zu verkaufen“, und in der Arroganz der „jüdischen Regierung“ Österreichs. Sein Groll richtete sich selbst gegen die winzigen Gruppen der neuerungssüchtigen Emigranten, die sich in den europäischen Hauptstädten unter dem Namen Jungtürken zu Wort meldeten und Konstantinopel ein parlamentarisches Regime aufzwingen wollten, das den Verhältnissen am Bosporus und in Anatolien unangemessen sei. Tatsächlich gab es in Paris eine Widerstandsgruppe, die Abd-ül Hamid viele Unannehmlichkeiten bereitete. Diese ein wenig zu verschwörerischen Umtrieben neigenden, ungläubigen und der Freimaurerei dienenden Dissidenten gaben die Zeitung Meschweret („Die Beratung“) heraus. Sie warteten auf ihre Stunde. Und ihre Stunde kam.
Der jungtürkische Philosoph, der Piaton, die Kabbala und die Sozialisten gelesen hatte, durfte nun behaupten, ohne eine Gotteslästerung zu begehen, daß der Sultan ein mittelalterlicher, schurkischer und bösartiger, abergläubischer Herrscher sei, der lächerliche Amulette trage und erbärmliche Astrologen als Ratgeber habe: „Er ist ein Ludwig XI., wenn Sie so wollen „, faßte er diesen Vergleich für die Franzosen zusammen, womit er an den hinterlistigen Ludwig XI. und seine Eisenkäfige erinnerte. „Genauer gesagt, er ist ein Cesare Borgia“, schloß er, damit er von ganz Europa verstanden wurde. „Seine gewöhnliche Lektüre, sein Lieblingsbuch, ist Machiavellis Der Fürst.“ Er stellte sich vor, daß er damit ein vollständiges Charakterbild entworfen habe. Dennoch wird man sich wohl einig sein, daß Abd-ül Hamid den Florentiner schlecht gelesen hatte, der tiefgründige Gedanken über jene geäußert hatte, „die durch Verbrechen zur Herrschaft gelangt sind“. Wenn die älteste Geschichte tatsächlich zeigte, daß es möglich war, seine Mitbürger umzubringen, seine Freunde zu verraten, kein Vertrauen und kein Erbarmen zu kennen und trotzdem seine Ziele zu erreichen, so bewies sie ebenfalls unwiderlegbar, daß jemand, der bestialische Grausamkeit zu seiner Lebensregel gemacht hatte, sich unmöglich den vortrefflichen und zuverlässigen Männern hinzugesellen durfte. Dieser werde stets gezwungen sein, „das Messer in der Hand zu behalten“:„Denn seine fortwährenden Grausamkeiten verhindern, daß die Völkerjemals seinem Wort trauen können.“ Darum kümmerte sich Abd-ül Hamid gewiß nicht bis zu jenem Morgen des Jahres 1908, als die in Saloniki, stationierten Truppen seinen Thron bedrohten, und bis zu jenem Abend des Jahres 1909, an dem er abgesetzt wurde. Die Abgeordneten, die ihm die Neuigkeit mitteilten, hatten einen leichenblassen Mann vor sich mit schlotternden Knien, zitternden Händen, bebender Stimme und vor Schrecken verzerrtem Gesicht. Nachts verschwand er heimlich aus seinem Palast, zusammen mit vier Lieblingsfrauen und einem äußerst kleinen Teil seiner Schätze. Im Gegensatz zu den hier oder da vorgebrachten Behauptungen, mit denen man ein absurdes Märchen bestätigen wollte, kam es dazu nicht, weil der Sultan einen unheilbringenden Diamanten besaß, der fortan unter dem Namen Hope Diamond bekannt war — ein riesiger Stein aus Golkonda, den vielleicht ein gewisser Tavernier, der schließlich von Wildhunden zerfleischt wurde, einem hinduistischen Idol entrissen hatte; ein blauer Diamant, der seine Eigentümer ins Verderben stürzte; ein Juwel, das aus dem Besitz der Montespan, der dämonischen Mätresse Ludwigs XIV, in den Marie-Antoinettes, der unseligen Gemahlin Ludwigs XVI., überging; ein Schmuckstück, das man während der Französischen Revolution vergraben hatte und das am Hals einer Pariser Kurtisane wieder auftauchte, wobei diese bald von einem Prinzen, ihrem Liebhaber, ermordet wurde, so daß der Stein dann zu einem Griechen gelangte, der am Boden eines Abgrunds enden sollte, bis der Diamant zuletzt seinen Platz in Abd-ül Hamids wohlgefüllten Truhen fand. Daß der Sultan diesen berühmten Diamanten von mehr als 45 Karat für sich behielt, war also nicht der Grund für seinen Sturz. Er trat vielmehr infolge eines einfachen Gesetzes der menschlichen Gesellschaften ein, demzufolge es dort zu einer Empörung kommt, wo Unterdrükkung herrscht, wie dies ein anderer Philosoph bezeugt hat.
Das verhängnisvolle Leben und Werk des Sultans diente lange als Stoff für die europäische Vorstellungswelt. Als im Herbst 1914 der Krieg ausbrach, schickte der Autor von Das Geheimnis des gelben Zimmers und Das Parfüm der Dame in Schwarz den furchtlosen und pfiffigen Reporter, den er zu seinem Helden gemacht hatte, an den Bosporus, denn im Hinterland brauchte man Unterhaltung. Der entthronte Herrscher Abd-ül Hamid spielte in diesem Originalfeuilleton für die Leser von Le Marin zwar nur die Rolle einer Nebenperson, die jedoch überaus reizvoll und notwendig war. „Ist er wirklich so grausam, wie man es behauptet?“ fragte Rouletabille. „Er ist vielleicht noch grausamer, wenn man den Anekdoten glauben darf.“ Das schlechte Papier, die aufsehenerregenden Titelblätter und die märchenhaften Auflagenhöhen der volkstümlichen Romane sorgten dafür, daß die furchterregende Berühmtheit des Sultans und die Realität seiner Verbrechen in den tiefsten Bewußtseinsschichten der Völker erhalten blieb. Rouletabille irrte auf der Suche nach Juwelen umher, nach Rubinen, Smaragden, Saphiren, Bergen von Diamanten, Amethysten, Opalen, Chrysolithen, Lapislazuli, Turmalinen, nach Gold- und Silberhaufen, die im Palast Yildiz-Kiosk versteckt waren. Er erschauerte „an diesen historischen Orten, die so vieles … solch entsetzliche Dinge gesehenhatten. Dort wurde die schreckliche armenische Vesper organisiert undbefohlen.“ (So wie man erbleichend von der Sizilianischen Vesper spricht, jenem grauenhaften Massaker im April 1282, das immer noch die Phantasie anregt.) Die orientalische Irrfahrt des Joseph Rouletabille begeisterte Frankreich und Europa wie ausnahmslos all seine erstaunlichen Abenteuer. Die Geheimnisse des Bosporus oder auch Die seltsame Hochzeit Rouletabilles ebenso wie Rouletabille im Krieg wurden in den zwanziger Jahren ins Italienische, Spanische und Tschechische übersetzt, in Mailand von Giuditta Rotti, in Madrid von Nicolas Aguilar y Munoz, in Prag von Franta Ctepänek. (Und es ist durchaus möglich, daß man in der einen oder anderen Hauptstadt ein paar vergessene Ausgaben aufstöbert.) Für alle Menschen der damaligen Zeit war es selbstverständlich und sonnenklar, daß Abd-ül Hamid der Inbegriff eines Massenmörders war. 1935 drehte der Regisseur Karl Grüne einen Film mit dem englischen Titel Abdul the Damned, der auf deutsch „Abdul der Verdammte“ hieß. Fritz Kortner war in der Rolle des Sultans zu sehen, der schwedische Schauspieler Nils Asther als Chef der osmanischen Polizei und die Amerikanerin Adrienne Arnes aus Fort Worth, Texas, als wunderschöne und verführerische Frau. Karl Grüne hatte Deutschland vor dem Zusammenbruch der Republik verlassen. Er emigrierte zuerst nach Frankreich und dann nach England. Auch Kortner hatte sich in jener verhängnisvollen Zeit nur durch Flucht retten können. Diese unseligen Umstände führten nun dazu, daß er in einem britischen Studio einen berüchtigten Massenmörder verkörperte. In Frankreich erhielt der Film den Titel Le Sultan Rouge („Der rote Sultan“). Damit spielte man natürlich nicht auf höchst unwahrscheinliche fortschrittliche Überzeugungen des Sultans an, sondern meinte die Farbe des Blutes, das Abd-ül Hamid skrupellos vergossen hatte. Als der Film herauskam, stieß er auf großes Interesse: „Der großartigste Film, den man jemals in Europa produziert hat“, versicherte L’Ecran Lyonnais. „Eine schöne und lebendige Darstellung der Türkei des Jahres 1908. Sie stimmt mit dem überein, woran man sich noch heute erinnert.“Film Weekly vom 20. September 1935 sah darin ein eindrucksvolles Drama. Die Zigarettenfirma Gallaher Ltd. nahm Abdul the Damned in ihre farbige Reklamebildserie „Berühmte Filmszenen“ auf, die man immer noch für ein Pfund Sterling erwerben kann. Das heißt, daß der rote Sultan prägende Erinnerungen im Bewußtsein Europas hinterlassen hat.
So kam es, daß man in Europa den Sturz Abd-ül Hamids als eine Wohltat empfand. Überrascht und zustimmend beschäftigte sich die Welt mit dem, was sie „die liberale Bewegung in der Türkei“ nannte. In allen politischen Kreisen, selbst den gemäßigtsten und den kompromißlosesten, kommentierte man die Ereignisse mit lebhaftem Interesse. Sogar jener Mann, dessen Taten ganz Rußland erschüttert hatten, Leo Trotzki, der ehemalige Vorsitzende des Petersburger Sowjets, veröffentlichte seine Eindrücke in der Prawda, einer kleinen Zeitung, die er in Wien herausgab. Er wandte sich an Leute, die nie eine Landkarte gesehen hatten, und in seinem lobenswerten Bemühen um Verständlichkeit ließ er nichts im unklaren: „Die Türkei“, schrieb er, „liegt auf der Balkanhalbinsel, in der Südostecke Europas. Seit uralten Zeiten ist dieses Land gleichbedeutend mit Stagnation, Unbeweglichkeit, Despotismus. Auf diesem Gebiet steht der Sultan von Konstantinopel seinem Bruder in Sankt Petersburg nicht im geringsten nach, ja er übertrifft ihn sogar. Volksgruppen unterschiedlicher Rassen- und Religionszugehörigkeit (Slawen, Armenier, Griechen) wurden teuflischen Verfolgungen ausgesetzt. Doch selbst das Volk des Sultans — die mohammedanischen Türken — lebten nicht glücklich. Die Bauern wurden von den Verwaltungsbeamten und den Grundbesitzern praktisch als Sklaven behandelt. Sie waren arm, unwissend und abergläubisch. Es gab nurwenige Schulen.“ Trotzki fragte sich schließlich, ob die im Westen ausgebildeten Jungtürken die erforderliche Intuition und Kühnheit haben würden, um sich mit derart schwierigen Problemen auseinanderzusetzen und sich für die einzige brauchbare Lösung — die demokratische — zu entscheiden. Die Jungtürken hatten den Namen Komitee für Einheit und Fortschritt angenommen, der zu positiven Erwartungen berechtigte. Die Bewegung hatte zivile Führer und ruhmreiche militärische Vertreter. Aus Paris kamen Ahmed Riza, der Direktor des Meschweret, der in der rue Monge im Quartier Latin gewohnt hatte, und Doktor Nazim, ein Absolvent der Medizinischen Fakultät, den man gern als den „Missionar der liberalen Ideen in Kleinasien“ vorstellte. Diese Revolutionäre wirkten nicht im geringsten beunruhigend. Ahmed Riza trug stolz einen kunstvoll gestutzten weißen Bart und einen vorzüglich sitzenden Gehrock. Doktor Nazim war mit seinen nach hinten gekämmten Haaren eine stattliche Erscheinung. Behaeddin Schakir, ein weiterer Arzt, der sich der Gruppe anschloß, hatte einen gepflegten Schnurrbart nach der Mode der Belle Epoque. Die Militärs kamen mit ihren Truppen aus Saloniki, einer buntgemischten und betriebsamen Stadt. Ihnen jubelte man als ersten zu, denn sie hatten ja das schändliche Regime gestürzt. Major Enver Bey, ein Absolvent der Kriegsakademie, wirkte in seiner bescheidenen Uniform weiter wie ein einfacher Mann. Ahmed Dschemal zeichnete sich lediglich durch seinen großen schwarzen Bart aus. Leutnant Niyazy Bey, ein wild um sich blickender Albaner, steuerte die einzige extravagante Note bei: Er trug Leutnant Niyazy Bey, ein wild um sich blickender Albaner, steuerte die einzige extravagante Note bei: Er trug eine Mütze, an der in osmanischer Schrift „Fedai Watan“ — „Für das Vaterland geopfert“ — zu lesen war. Niyazy sollte nicht alt werden. Insgesamt taten sich die Mitglieder des Komitees för Einheit und Fortschritt kaum durch eine originelle äußere Erscheinung hervor. Vielmehr sahen sie wie vorbildliche Angestellte aus: Talaat war ein ehemaliger Beamter der Post- und Telegraphenverwaltung, und der Finanzfachmann Dschawyd trug einen kleinen Kneifer und stand in dem Ruf, ein guter Redner zu sein. Wenn sie sich zu Beratungen versammelten, ähnelten sie sich mehr oder weniger alle, die Zivilisten in Zivil und die Militärs in Uniform. Die einen trugen den Fes, die anderen eine Astrachanmütze, Doch sie wollten ja auch nicht auffallen. Sie blieben im Schatten, während sich die Straßen Konstantinopels mit einer jubelnden Menge füllten. Wie in jeder Revolution kostete das Volk vom reinen Wasser der Freiheit, erhoffte eine bessere Zukunft. Die Armenier waren nicht die letzten, die in den allgemeinen Jubel einstimmten. In den Taxim-Gärten spulten improvisierte Volkstribunen unaufhörlich Reden über Brüderlichkeit und Gleichheit ab. In den ersten Tagen erlebte man sogar, daß die Henker von gestern den Opfern von 1896 öffentlich Abbitte leisteten. Ein Journalist hielt den wesentlichen Eindruck in seinem Notizbuch fest: „Eine große, sehr sanfte, sehr beruhigende Welle der Liebe erwärmte alle Herzen. “ Armenische, israelitische, griechische und mohammedanische Gruppen saßen auf Wagen, die mit Blumen und glänzenden Tüchern bedeckt waren, und fuhren durch die Straßen Smyrnas. Sie hielten sich an der Hand, während die Militärkapellen die „Marseillaise“ spielten. (Die französischen Journalisten waren begeistert, als sie diese Anekdote wiedergeben konnten.) Öffentliche Aktionen, die das alte Regime verboten hatte, waren nunmehr offenbar erlaubt und sogar erwünscht. Konstantinopel erlebte — eine unglaubliche Neuigkeit! — Streiks: in der Glas- und Tabakindustrie, im Hafen, bei den Straßenbahnen. „ Was wollen sie erreichen?“„Aber, werter Herr, natürlich eine Verringerung der Arbeitszeit und Lohnerhöhungen.“ Natürlich. Gleichwohl waren das nur Träume und Illusionen, Wahnvorstellungen und Hirngespinste. Die wenigen griechischen, türkischen, armenischen, jüdischen und bulgarischen Arbeiter und Intellektuellen, die gemeinsam auf die schlechte Idee verfallen waren, in Konstantinopel ein sozialdemokratisches Zentrum nach europäischer Art zu gründen, wurden brutal auf den harten Boden der Wirklichkeit zurückgestoßen und fanden sich im Gefängnis oder im Exil wieder. Denn im Land der Minarette gab es nur Raum für eine einzige Idee. Jene, die voll ehrgeiziger Pläne aus Paris oder Saloniki, London, Genf oder Kairo gekommen waren, jene, die nun die Macht errungen hatten, aber noch zögerten, wie sie diese gebrauchen sollten, beschlossen endlich eines schönen Tages, daß sie einen Schritt unternehmen müßten, der sie dem Fortschritt entgegenbringen würde. Allerdings wußten sie nicht, wie sie das Problem anpacken sollten. Da man mit irgend etwas beginnen mußte, widmeten sie sich zuallererst der Aufgabe, sich die Hunde vom Halse zu schaffen. In Konstantinopel fehlten die primitivsten hygienischen Einrichtungen. Davon überzeugten sie sich jeden Tag, sie, die an die Cafes der westlichen Hauptstädte und an die Kasernen Makedoniens gewöhnt waren. In Konstantinopel aber streunten seit Jahrzehnten, gewiß seit Jahrhunderten, Tausende von Hunden umher, gelbe Hunde, graue Hunde, schwarze Hunde, weiße Hunde, rote Hunde. Sie bildeten eine besondere Gemeinschaft und hatten erst vor kurzem wegen ihrer Zahl und ihrer geselligen Lebensweise die Aufmerksamkeit einiger Wissenschaftler auf sich gezogen* Man behauptete, und das war etwas Sonderbares, daß sie wunderbar mit den Katzen auskämen und auch einen erstaunlichen Hang zur Verträglichkeit, zu den Annehmlichkeiten eines gemeinschaftlichen Lebens zeigten. Die kleinen Leute hatten sie gern, doch einige andere verabscheuten sie. Doktor Schakir, der dank der politischen Veränderungen einen wichtigen Posten an der Medizinischen Fakultät übernommen hatte, benutzte sie als Versuchstiere. Und die Hunde, die einen untrüglichen Instinkt hatten, mieden ihn wie Pest, Tollwut und Cholera. Aus diesem oder einem anderen Grund wurde jedenfalls höheren Ortes entschieden, die Straßenköter zu beseitigen. Ein kühnes Unternehmen, an dem sich schon Mahmud II. der Große, der Hochverehrte erfolglos versucht hatte, jener Sultan, der an einem einzigen Tag im Juni 1826 die anmaßenden Janitscharen vernichtet hatte. Ein ernstgemeintes Unternehmen, das in mehreren Veröffentlichungen behandelt wurde. (In der Zeitschrift Allgemeine und angewandte Hygiene findet man einige Belege.) Ein Vertreter des Pariser Institut Pasteur legte den Plan einer industriellen und allgemeinen Beseitigung vor, die von den Blikken Unbefugter abgeschirmt und unter Zuhilfenahme von Gaskammern erfolgen sollte eine Lösung, die er für wirtschaftlich und zukunftsträchtig hielt und die nach seiner Ansicht den Vorteil hatte, die kommerzielle Verwertung der Reste: der Haare, Häute und Knochen, des Fetts und Eiweißes, „sogar der Eingeweide“ zu ermöglichen. Die Jungtürken befürchteten jedoch, daß diese Intelligenzbestie einen maßlos hohen Anteil an den Transaktionen verlangen würde, wie es Fremde in diesem Land oft zu tun pflegten, und sie entschieden sich lieber für die herkömmlichen Verfahren, die weniger kostspielig, wenn auch offensichtlicher waren. Faulenzerbanden wurden als Handlanger rekrutiert und von Gendarmen beaufsichtigt. Sie sollten die Hunde in den einzelnen Stadtvierteln mit Lassos und Eisenzangen einfangen. Dieses ganze Unternehmen war innerhalb von zwei Wochen abgeschlossen. Die Tiere wurden aufgespürt, umzingelt, gehetzt, in die Enge getrieben, mit oder ohne Gegenwehr gepackt, in Käfige gesperrt, die man auf Karren stellte, und dann in einem Boot an ihren Bestimmungsort gebracht. Ein Zuschauer stellte fest, daß die Hunde, die sich gewöhnlich heftig verteidigten, wenn man etwas gegen sie unternahm, mit einemmal jeden Widerstand aufgaben: „ Trübselig und still drängten sie sich eng aneinander. Erstaunt und ängstlich betrachteten sie die Stadt, die sie so lange gastfreundlich aufgenommen hätte und sie nun aus ihrer Mitte verstieß. Man könnte meinen, daß sie sich fragten, welches Verbrechen sie begangen hatten, daß sie über die Untreue und Undankbarkeit der Menschen nachdachten und das schreckliche Schicksal vorausahnten, das sie erwartete. „Auf einem Felseneiland, einer kleinen unbewohnten Insel im Marmarameer, warteten sie ohne Wasser und Nahrung auf den Tod. Die klare und leichte Luft erfüllte sich bald mit ihrem trostlosen Geheul, das weit über den Bosporus und das Goldene Horn hinweg erklang. Dann wurde der Lärm schwächer, nahm immer mehr ab und hörte schließlich ganz auf. Die kleinen Leute fühlten sich niedergeschlagen und traurig. Aber das Komitee hatte sein Programm und seinen Willen durchgesetzt.
In jenen Tagen, jenen Nächten, Stunden und Augenblicken fanden andere Ereignisse statt, die eine mit Nachrichten geizende Chronik unbeachtet ließ. Gerade zu dem Zeitpunkt, als die jungtürkische Armee mit der Dynastie abrechnete, mußte die armenische Bevölkerung an verschiedenen Orten des Reiches erleben, daß die altbekannten Halsabschneider, Strauchdiebe und Mörder wieder einmal über sie herfielen. „Es ist noch nicht möglich, sich eine genaue Vorstellung zu machen, welch bestialische Szenen sich abgespielt haben, und die Zahl der Toten annähernd zu schätzen“, berichteten die französischen Zeitungen am 15. Mai 1909. In Adana, Kessab, Latakia, Bazit und Antiochia verrichteten die Mordbrenner ihr systematisches Werk. Seeleute des französischen Kreuzers „Victor-Hugo“ machten beängstigend scharfe Bilder der in den Wellen treibenden Leichen. „3 000 tote Armenier wurden in den Seihun (den Cydrus der Antike) geworfen, jenen Fluß, der durch Adana fließt. Die Schneeschmelze macht den Fluß gegenwärtig zu einem reißenden Strom, und die Leichen wälzen sich wirr durcheinander zu dem zwanzig Kilometer entfernten Meer. An der Küste sieht man nun schon, daß sie auf dem Wasser treiben, weil die Strömungen sie herantragen, und auf den europäischen Kriegsschiffen kann man beobachten, wie sie langsam, verstümmelt und aufgebläht, am Bord vorbeiziehen … Aufsehen erregte die Leiche eines kleinen, vier oder fünf Jahre alten Mädchens. Außerdem die eines Mannes, der vom Unterleib bis zum Kinn wie ein Schlachttier aufgeschlitzt war und dem man Arme und Beine abgehackt hatte …“ (Brief eines Offiziers an den Figaro) Verfassungstreue Soldaten und reaktionäre, Turbane tragende Banden, Jungtürken und Alte vom Berge machten gemeinsame Sache, von atavistischer Wut gepackt. Man hätte von so etwas wie einem unabänderlichen Schicksal sprechen können. Die an die Macht gelangten Jungtürken paßten sich der Tradition aufs vollkommenste an. Allgemein anerkannt ist, daß damals 20 000 Menschen umkamen, die verbrannt, geschunden, in Stücke zerhackt wurden. Wer nicht an ein unabänderliches Schicksal oder ein unheilvolles Geschick, an einen Fluch oder die Ewigkeit des Nationalcharakters glaubte, konnte nur eine bestimmte Politik für diese tragischen Zwischenfälle verantwortlich machen, nämlich die der Jungtürken und ihrer Regierung, die das genaue Gegenteil von dem machte, was sie im Exil erklärt, angekündigt und versprochen hatten. „In dem Maße, als ihr konterrevolutionärer Pferdefuß immer mehr hervorguckte, kehrten sie alsbald mit Naturnotwendigkeit zu den altväterlichen Herrschaftsmethoden Abdul Hamids, das heißt zu dem periodisch organisierten Blutbad zwischen den auf einander gehetzten unterjochten Völkern und zur schrankenlosen orientalischen Auspressung des Bauerntums, als zu den zwei Grundpfeilern des Staates zurück“: Dieses unwiderrufliche Endurteil gab Rosa Luxemburg in ihrer Gefängniszelle über das Komitee für Einheit und Fortschritt ab, das die Türkei beherrschte.
Gewiß ist richtig, daß die Türkei gerade damals eine Bewährungsprobe nach der anderen bestehen mußte. Tripolitanien entglitt ihren Händen, von den Unruhen auf dem Balkan bekam sie Bauchschmerzen. Der König von Montenegro erklärte ihr den Krieg, Bulgarien mischte sich ein, außerdem Serbien und Griechenland. Mit anderen Worten, die osmanische Großtürkei siechte dahin, löste sich auf und zerfiel in einzelne Bruchstücke. Mit diesem Rattenschwanz von Kriegen begründeten die Jungtürken ihre Legende und, wie sie glaubten, ihre Legitimität. 1914 besaßen sie die absolute Macht. Der Innenminister Talaat Pascha, der Kriegsminister Enver Pascha und der Marineminister Dschemal Pascha. Anstelle eines Diktators hatte die Türkei drei bekommen. Hinter ihnen traten Nazim und Schakir, die Kohorte ihrer Schüler und Said Halim, der Sekretär des Komitees für Einheit und Fortschritt, als Großwesir hervor. Als ein serbischer Nationalist in Sarajevo Franz Ferdinand ermordete und ein rechtsextremer Fanatiker im Cafe du Croissant Jaures erschoß; als ganz Europa auf einmal in den Strudel des Krieges geriet, entdeckte das immer noch unternehmungslustige und zu neuen Abenteuern bereite Komitee für Einheit und Fortschritt sein Herz für den deutschen Kaiser. Es ließ sich schwer durchschauen, was sich die Jungtürken von dem Konflikt erhofften. Man konnte ihre Gedankengänge nicht leicht nachvollziehen. Keiner von denen, die das dunkle Geheimnis befragt hätten, schrieb ein alter Weiser, sei einen Schritt aus dem Schattenkreis herausgetreten. Doch um die alten Weisen kümmerte man sich nicht mehr. Doktor Nazim hatte von schwärmerischen Dichtern eine Idee übernommen, die damals von manchen positiven Philosophen und Soziologen hochgeschätzt wurde — eine Idee, die gewissenhafte Ärzte, leidenschaftliche Anwälte und rückständige Studenten als faszinierend ansahen; eine Idee, die in erster Linie die stolzen Militärs verführte; eine verlockende Idee, die moderne Geister ebenso wie die archaischen Massen in ihren Bann zog: die Idee der Rasse, der Ahnen, von Blut und Boden, von den völkischen Grundlagen der Nation der Türkismus. Die Türkei, die Großtürkei, die reine Türkei, Turan, der Panturanismus. Türk Yurdu. Türk Ocagi. Diese Idee war trivial, aber mörderisch. Ganz Europa hockte in den Schützengräben. Die Tommys, die französischen Frontsoldaten (die Poilus), die Teutonen, die Serben, die Ungarn, die Russen, die Moldauer und Walachen, sie alle ertrugen die Kälte, den Schlamm und den ohrenbetäubenden Lärm der Granaten. Großserbien, Großdeutschland, Großrußland, das ewige Frankreich. Jeder steuerte seinen kleinen Vers bei, jeder verteidigte sein Stück vom großen Kuchen. Der Krieg, die einzige Welthygiene, sang Marinetti, der Futurist mit dem Querbinder, in allen Tonlagen. In Konstantinopel, unter den Augen Talaat Paschas, verkündete im November 1914 der Scheich-ül Islam den Dschihad. Die grünen Bannet des Propheten vereinten sich auf den Straßen mit den roten Fahnen, die den Halbmond und den weißen Stern enthielten. Demonstranten zertrümmerten ein paar armenische Schaufenster, um eine gute Tat zu vollbringen. Enver Pascha wurde Generalissimus, Dschemal Pascha trug prächtige und glitzernde Sterne, Medaillen und das Eiserne Kreuz an der Jacke seiner schönen neuen Uniform mit den goldenen Epauletten. Die türkische Armee hatte sich auf sehen der Mittelmächte in den Kampf gestürzt, und sie schlug sich im Kaukasus, an den Dardanellen und in Suez. Die Russen rückten vor, die Russen wichen zurück. Die Engländer und Franzosen landeten in Gallipoli. Die Engländer und Inder warfen begehrliche Blicke auf Bagdad und Mesopotamien. Die türkische Armee verteidigte das Reich. Gekommen war die Zeit der entfalteten Banner, der maßlosen Ansprüche, endlich die Zeit jener Türkei, von der die fungtürken geträumt hatten. Am 30. April 1915 schickte Freiherr Hans von Wangenheim, der Botschafter Wilhelms II. in Konstantinopel, eine höchst beunruhigende Depesche nach Berlin, an Seine Exzellenz, den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: „In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag den 25. d. Mts und von Sonntag auf Montag den 26. d. Mts haben hier zahlreiche Verhaftungen von Armeniern stattgefunden. Im ganzen sollen an 500 Personen aus allen Gesellschaftsklassen festgenommen sein, namentlich Ärzte, Journalisten, Schriftsteller, Geistliche, auch einige Deputierte. “ Und all diese Leute wurden unter die Erde gebracht. Zwei Abgeordnete allerdings kamen bei dieser Razzia mit heiler Haut davon, weil sie langjährige freundschaftliche Beziehungen mit dem Innenminister unterhalten hatten. Sie hießen Zohrab und Vartkes. Der Erstgenannte war ein allgemein hochgeschätzter Anwalt. Die Führer des Komitees für Einheit und Fortschritt waren ihm zu Dank verpflichtet, weil er einen ihrer Mitstreiter vor den Schergen des Sultans bewahrt hatte, als man ihn vor Gericht stellen wollte. Der zweite gehörte zur Daschnakenpartei, der Revolutionären Armenischen Föderation, die die jungtürkische Revolution begrüßt und sich schon lange zuvor im Exil oder im Untergrund mit deren Wegbereitern verbrüdert hatte. Diese beiden ließ man also auf freiem Fuß, da man sich an die guten alten Zeiten erinnerte. Talaat und Vartkes hatten eine Unterredung. Doch die Gefühle durften nicht dem Schicksal im Wege stehen und jene große Idee verhindern, die epische Dichter und pedantische Ärzte den Militärs eingetrichtert hatten. Türk Yurdu. Türk Ocagi. Wir. Die anderen. Die Rasse, die Ahnen, die Nation. Die Gefühle verboten nicht, daß man sich freimütig äußerte: „Wir werden die günstige Lage nutzen, in der wir uns befinden, um euer Volk so weitgehend auseinanderzujagen, daß ihr euch jeden Gedanken an eine Reform für fünfzig Jahre aus dem Kopf schlagen könnt“, erklärte Talaat Pascha, der Innenminister. „Sie beabsichtigen also, das Werk Abd-ül Hamids fortzusetzen?“ erkundigte sich Vartkes. „Ja!“ schnitt ihm Talaat das Wort ab, ohne sich um weitere rhetorische Vorsichtsmaßnahmen zu bemühen. Diese Unterhaltung wurde in einem vertraulichen Memorandum wiedergegeben, das ein deutscher Pastor verfaßt hatte und wenige Monate nach den Ereignissen in Potsdam gedruckt wurde. Vartkes verschwand danach zusammen mit Zohrab, denn auch gute Beziehungen haben ihre Grenzen, vor allem, wenn sie nur mit der guten alten Zeit zu tun haben. Alle beide kamen sie auf der Straße nach Urfa um, und das erledigte ein Tscherkesse der sogenannten SpezialOrganisation. „Mit meiner Mauserpistole habe ich diesem Vartkes das Gehirn zermanscht, dann habe ich Zohrab gepackt, ihn auf die Erde geschmissen und ihm den Kopf mit einem großen Stein bearbeitet, bis er krepierte.“ Man weiß nicht, warum das geschieht, doch es finden sich immer Henker, die sich ihrer Verbrechen rühmen. Talaat, der ein feines Taktgefühl hatte, benachrichtigte die Witwe, daß ihr Mann einem Herzanfall erlegen sei. Walter Rößler, der deutsche Konsul in Aleppo, hatte seine Vorgesetzten über das traurige Schicksal der Abgeordneten informiert. „Die beiden bekannten armenischen Abgeordneten Zohrab und Wartkes Effendi befinden sich gegenwärtig auf dem Transport hier, um nach Diarbekir verschickt zu werden. Nach allem, was von dort bekannt, muß angenommen werden, daß dies ihren sichern Tod bedeutet.“
Doch die Toten ließen sich nicht mehr zählen. Sie lagen haufenweise am Rand der Wege, am Boden der Brunnen, am Grund der Schluchten, an den Flußufern, in den Trümmern der verbrannten Dörfer, in den Höhlen der Wüste. Von überallher, aus allen Provinzen verbreiteten sich Gerüchte, trafen übereinstimmende Informationen ein. Obwohl sie in der Flut der von den Kriegsberichterstattern veröffentlichten Meldungen untergingen und trotz der Zensur erreichten sie dank modernster Hilfsmittel ihre Adressaten, das heißt die Gesandtschaften, die Außenministerien und die Redaktionen der großen Zeitungen bei den Kriegsgegnern, Freunden und Neutralen. Eine äußerst weitgehende Unwissenheit zeigte sich hingegen am Ort des Verbrechens selbst. „In Amerika haben Sie wahrscheinlich noch nicht von der schrecklichen Krise erfahren, die die Armenier in der Türkei gegenwärtig durchmachen“, verlautete im Juni 1915 aus einer „maßgeblichen Quelle“, die aus Konstantinopel an New Yorker Landsleute schrieb. Nichts war weniger wahr. Die New York Times hatte am 28. und 29. April 1915 von den Demarchen des Botschafters Henry Morgenthau bei der osmanischen Regierung berichtet. Der Botschafter war ein feinsinniger und distinguierter Mann. Er empfing ausländische Reisende in seinem Büro, vor allem Missionare, die in die Provinzen und auf den Straßen ausgezogen waren, wie es ihr Missionswerk verlangte, Reisende aller Nationalitäten; und von diesen Missionaren, diesen Reisenden, diesen Ausländern ganz unterschiedlicher Herkunft erhielt er entsetzliche Berichte, die miteinander übereinstimmten, einander annähernd oder vollständig glichen und sich nur bei den Einzelheiten der Mordtaten, Foltern und Greuel unterschieden. Obwohl es ihm schwerlich gefiel und auch bedeutete, über seine ausdrückliche Pflicht hinauszugehen, die im Schutz der amerikanischen Interessen bestand, entschloß sich Botschafter Morgenthau, den obersten Führer des Komitees für Einheit und Fortschritt, den Innenminister Talaat, von seinen Besorgnissen in Kenntnis zu setzen, wobei er hoffte, einen guten Tag zu erwischen: Talaat Pascha unterlag, wie er festgestellt hatte, heftigen Stimmungsschwankungen und wechselte unvermittelt von den schlimmsten Wutanfällen zu einer liebenswürdigen, fröhlichen und heiteren Laune über. Die Chancen waren äußerst gering. Talaat hatte es nicht gern, daß man ihm von den Armeniern erzählte, das brachte ihn zur Raserei. Und Talaat wußte es nur sehr bedingt zu schätzen, daß man ihm sein Verhalten vorschrieb, sich in seine Angelegenheiten einmischte; und wie es sich nun einmal ergab, waren seine Angelegenheiten die des Staates. „Warum interessieren Sie sich für die Armenier?“ fragte er abrupt. „Sie sind doch Jude, und diese Leute sind Christen. „Diese primitive Argumentation verblüffte den Botschafter, der gleichwohl einige Erfahrung mit der Mentalität seines Gesprächspartners hatte.„ ‚Sie scheinen nicht zu verstehen, antwortete ich, ‚daß ich nicht als Jude hier bin, sondern als amerikanischer Botschafter… Ich wende mich nicht an Sie im Namen einer Rasse oder einer Religion, sondern einfach im Namen der Menschlichkeit. Sie haben mir mehrmals gesagt, daß Sie aus der Türkei eine Nation machen möchten, die dem Fortschritt entgegengeht. Die Art, wie Sie den Armeniern gegenüber handeln, wird Ihnen nicht helfen, diesen Wunsch zu verwirklichen, ganz im Gegenteil! Man wird Ihr Volk als reaktionär ansehen, das weit hinter den anderen zurückgeblieben ist.'“ Fortschritt, reaktionär … Unter bestimmten Voraussetzungen hätten diese Worte den Pascha zu den anerkennenswerten Ideen des Presseorgans Meschweret zurückfuhren können, die in den Pariser Cafes oder den Wachstuben von Saloniki ersonnen worden waren; zum ehrgeizigen Programm der illegalen Jungtürken, das auf der positiven Philosophie der modernen Soziologen mit Stehkragen beruhte. Aber Talaat Pascha, in dessen Hand nun die Macht über Leben und Tod aller Untertanen des Reiches lag, schien derartigen Überlegungen aus früheren Zeiten unzugänglich. „Man kann den Armeniern nicht trauen“, verkündete er schließlich. „Und außerdem ist unser Verhalten ihnen gegenüber nicht die Angelegenheit der Vereinigten Staaten.“ Diese Angelegenheit ging niemanden etwas an, wenn man den Jungtürken glaubte, sie betraf nur die Gendarmen, die Zaptieh, und die Spezialorganisation.
Die Gründung der Spezialorganisation diente dem Ziel, das schmutzige Handwerk des Krieges auf die sauberste Art der Welt zu erledigen. Um erfolgreich zu sein, mußten die Ausführenden an den Gewinnen beteiligt werden. In den Gefängnissen wimmelte es von solchen Strauchdieben und Galgenstricken. Für die kriminellen Häftlinge öffneten sich also die Zellentüren, sofern sie eine Verpflichtung unterschrieben, jedem Wort und jedem Blick zu gehorchen, wobei sie mit der Freiheit auch die Erlaubnis erhielten, sich an ihren Opfern schadlos zu halten. Damit war die Spezialorganisation, Teskilat-i-Mahsusa, geschaffen, um ihren unheilvollen Zweck zu erfüllen. Sie unterstand unmittelbar und ausschließlich dem Komitee für Einheit und Fortschritt, und keine Regierungsbehörde durfte sich in deren Angelegenheiten einmischen. Sie war Doktor Nazim und seinem Kollegen Behaeddin Schakir unterstellt. Ihre Struktur entsprach vollkommen den Vorstellungen dieser Verstandesmenschen. Sie war eine zeitgemäße Miliz. Modern, beweglich und effektiv, über den Gesetzen stehend, wenn es im Land der Jungtürken überhaupt Gesetze gab. Das für ihr Funktionieren erforderliche Geld — denn Geld bleibt nun einmal die Hauptsache im Krieg — kam aus den Geheimfonds der Partei und aus den bei ihren Operationen zusammengeraubten Vermögenswerten. Die Waffen wurden aus den Lagern der Armee geholt. Ihre Aktionsgruppen wurden unter dem Namen Tsetes bekannt. Doktor Behaeddin Schakir Bey war ein vorzüglicher, fleißiger und besonnener Praktiker, der nichts dem Zufall überließ. Hatte er diese guten Eigenschaften an der Kaiserlichen Medizinischen Fakultät erworben, deren Absolvent er war, oder in Paris, jener Stadt, wo er sich auf Psychiatrie und Gerichtsmedizin spezialisierte und gleichzeitig im isolierten Kreis der Emigranten verkehrte? Oder geschah das im Leichenschauhaus von Istanbul, dessen glücklicher Verwalter er vor dem Krieg war? Seine Fähigkeiten machten aus ihm einen Mann, der für die ihm übertragenen Sonderaufgaben unentbehrlich war. „Sind die deportierten Armenier liquidiert worden?“ erkundigte er sich im Frühjahr 1915 beim Wali von Charput. „ Gib mir Informationen über ihre Vernichtung. Wurden die gefahrlichen Elemente massakriert oder lediglich aus den Städten vertrieben und deportiert? Teile es mir klar und deutlich mit, mein Bruder!“ Der Mechanismus war in Gang gesetzt. Die Maschine lief nun auf vollen Touren. Sie arbeitete ausgezeichnet. Wenn ein paar weichherzige Leute, wie es immer noch welche gab, ihre Abneigung äußerten, den Befehlen zu folgen, und wenn sich dies nicht mehr mit den auf dem Spiel stehenden Interessen vereinbaren ließ, so fügten sie sich doch bald einer überzeugenden Argumentation. Der Kommandeur der 3. Armee hatte die Entscheidungen, die man treffen mußte, unverblümt genannt: „Mohammedaner, die es wagen, Armenier bei sich aufzunehmen, müssen vor ihrem Haus aufgehängt werden, und dieses soll man verbrennen.“ Und wenn es unglücklicherweise geschehen sollte, daß Ausländer zur falschen Zeit am falschen Ort waren und mit ihren ungläubigen Augen das mit ansahen, was sie nichts anging, so war es nicht verboten, ihre Aussagen kategorisch zu dementieren und dem Tohuwabohu des Krieges, dem allgemeinen Chaos und den wohlverstandenen Interessen der Nationen zu vertrauen, um die unerfreulichen Augenzeugenberichte vergessen zu lassen. Als Freiherr von Wangenheim, der deutsche Botschafter, eine dringende Bitte um Instruktionen wegen der schändlichen Umtriebe erhielt, die von Scheubner-Richter, sein Konsul in Erzerum, miterlebte — daß man nämlich armenische Wohnungen in Brand steckte und Honoratioren auf offener Straße ermordete —, war er daher als kampferprobter Diplomat nicht lange unschlüssig, wie er sich zu verhalten hatte: Gewiß sei es vorzuziehen, Ausschreitungen des Pöbels „wie Massacres und Plünderungen“ zu verhindern, aber „hierbei ist der Schein zu meiden, als ob wir ein Schutzrecht über die Armenier ausüben und in die Tätigkeit der Behörden eingreifen wollen“. Aus Adana, Alexandrette und Aleppo erhielt der Freiherr einen Bericht nach dem anderen. Sie alle äußerten sich in ein und demselben Sinne; sie alle trieften von Blut. Die Konsuln, die den Ereignissen am nächsten waren und sahen, wie die Mörder vor ihren Augen zuschlugen, zeigten Mitgefühl, Erbarmen und Abscheu, was auf einer höheren Ebene nicht mehr angemessen war. „Die Regierung schädigt durch ihr barbarisches Vorgehen offenbar die Interessen des Landes.“ (Büge, Konsul in Adana, 18. Mai 1915) „Genug Unglück ist geschehen. Es wäre Zeit einzuhalten.“ (Rößler, Konsul in Aleppo, 26. Mai 1915) „Ich habe hiesiger Regierung meinen tießten Abscheu gegen diese Verbrechen ausgedrückt.“ (Holstein, Konsul in Mossul, 10. Juni 1915) Abgesehen von den rein gefühlsmäßigen Reaktionen seiner Untergebenen, die er verstehen konnte, verlor der Freiherr nicht die Tatsache aus den Augen, daß man sich im Krieg befand, daß die Türkei eine verbündete Macht war, daß Dschemal Pascha das Eiserne Kreuz an seinem Waffenrock trug, daß Enver Pascha als Militärattache in Berlin gedient hatte und seine Schnurrbartenden so aufzwirbelte wie Kaiser Wilhelm, und er vergaß auch nicht, daß sich der Kaiser höchstpersönlich während einer denkwürdigen Reise als Türke kostümiert hatte; er verlor nicht aus den Augen, welches strategische Interesse der Bagdadbahn zukam und welch riesigen Absatzmarkt diese Region für die Kruppwerke bot. Darum riet er den ihm unterstellten Konsuln und dem ihm übergeordneten Minister zur Vorsicht. „Diese türkischen Maßnahmen“, erklärte er, „werden natürlich der gesamten uns feindlichen Welt wieder große Aufregung verursachen und auch gegen uns ausgebeutet werden. Die Maßnahmen bedeuten gewiß auch eine große Härte für die armenische Bevölkerung. Doch bin ich der Meinung, daß wir sie wohl in ihrer Form mildern, aber nicht grundsätzlich hindern dürfen.“
Doch die Nachricht verbreitete sich schonungslos über die Meerengen, Meere und Ozeane hinweg. Die größte Zeitung der größten Metropole des größten Landes machte daraus ihre Balken Überschriften: „Tragische Folge des Kriegs im Ori ent: Türken und Kurden verüben Massenmord an den Armeniern in den Dörfern Ostkleinasiens.‘ Die New York Times behauptete, dieses Blutbad übertreffe alle Vorstellungen von jenen Untaten die der widerwärtig anzusehende Rote Sultan Abd-ül Hamid in seiner abscheulichen Herrschaftszei begangen habe. Leider gebe es nicht mehr „den ge ringsten Grund, daran zu zweifeln“. — »Ein soeben aus Saloniki zurückgekehrter Korrespondent der Times teilt mit, alle aus der Türkei kommenden Berichte stimmten darin überein, daßdie Türken furchtbare Greueltaten an den Armeniern verüben. Man nehme an, daß dem die offizielle Absicht zugrunde liege, einen Vernichtungsfeldzug durchzufuhren, der die Ermordung von 800 000 bis zu einer 1 000 000 Personen vorsehe.“ (16. September 1915) Das war bedauerlich und erregte allmählich Aufsehen in den Kanzleien. Freiherr von Wangenheim wußte, woran er war. Er litt nicht unter Informationsmangel, er konnte alles aus nächster Nähe beobachten. „Daß die Verbannung der Armenier nicht allein durch militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage“, notierte er. „Der Minister des Innern Talaat Bey hat sich hierüber kürzlich gegenüber dem zur Ztit bei der Kaiserlichen Botschaft beschäftigten Dr. Mordtmann ohne Rückhalt dahin ausgesprochen, daß die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden.“ Selbst die Militärattaches, die sich gleichwohl ein dickes Fell zugelegt hatten und an Blutvergießen, heraushängende Gedärme und standrechtliche Erschießungen, an Seufzer und Wehklagen gewöhnt waren, hatten bei allen Feldzügen, an denen sie bisher beteiligt waren, nichts Ähnliches erlebt. Sofern sie sich ein gewisses Ehrgefühl bewahrt hatten, konnten sie ihren Abscheu nur mit Mühe verbergen. Was Oberstleutnant Stange von der deutschen Militärmission mit ansehen mußte, was er in der Region von Erzerum, Trapezunt, Erzindschan und Mama Hatun kennenlernen mußte, drehte ihm den Magen um, jagte ihm eiskalte Schauer über den Rücken; kurzum, es widerte ihn an. „Nach allem Vorgefallenen „, empörte er sich, „kann folgendes als sicher angenommen werden: Die Austreibung und Vernichtung der Armenier war vom jungtürkischen Komitee in Konstantinopel beschlossen, wohl organisiert und mit Hilfe von Angehörigen des Heeres und von Freiwilligenbanden durchgeführt.“ Talaat Pascha beherrschte die inneren Angelegenheiten tatsächlich mit eiserner Hand. Den altgedienten Diplomaten fehlten die erforderliche Sensibilität und Charakterstärke, um sich mit Vorhaltungen an derartige Persönlichkeiten zu wenden. Die Diplomaten wußten nicht, wie sie die Herren des Komitees für Einheit und Fortschritt ansprechen sollten, die nicht wie sie in guten Schulen und im vornehmen Stil ausgebildet waren, sondern sich den abscheulichen Ruf von Emporkömmlingen erworben hatten. Man sagte, sie benähmen sich ungezogen. Wenn sie sich einmal zum Zeitvertreib im Jachtklub von Prinkipo, im Klub von Konstantinopel oder im Cercle d’Orient einfanden, verletzte das ständig den feinen Geschmack der alten Aristokratie. Früher, so raunte man, hätte man diesen Leuten kaum erlaubt, bis zum Vestibül vorzudringen, um drei Worte mit dem Portier zu wechseln; und nun, da sie dermaßen reich und mächtig geworden seien, benähmen sie sich als raffgierige und brutale Herren. Sie führten das große Wort, äußerten sich grob und drohend, duldeten keine Widerrede. Sie waren ungeniert wie Fleischer. Trotz seines bescheidenen Titels, doch vielleicht deshalb, weil er Bürger eines befreundeten Staates war, von dem die Türkei in hohem Maße abhing, gelang es dem deutschen Pastor, der im Namen der Deutschen Orientmission ermittelte, Generalissimus Enver Pascha zu treffen, den verehrten und gefürchteten Generalstabschef und Führer aller Uniformträger im ganzen Gebiet des weiten Reiches. Der Pastor war ein beherzter Mann, seine humanitären Glaubensüberzeugungen trieben ihn zu mutigen Taten. „ ‚Um auf unser Thema zu kommen, begann ich, ’so frage ich mich, ob Sie wissen und gutheißen, was im Innern des Landes geschieht.‘ Er wußte, was ich sagen wollte, und antwortete: ‚Ich übernehme die ganze Verantwortung.'“ (Der Inhalt dieses Gesprächs wurde in der Zeitschrift Der Orient veröffentlicht, zu einer Zeit, als Enver in Berlin lebte.)
Da das Klima in Konstantinopel für sein Herz und seinen Blutkreislauf unverträglich war, wurde der deutsche Botschafter von Wangenheim von seinem Posten abberufen und durch den Fürsten von Hohenlohe-Langenburg ersetzt, der einen widerstandsfähigeren Charakter hatte. Was vielleicht zu sehr zutraf, wie seine Standesgenossen urteilten. Seine Biographen werden schon wissen, ob er aus Achtung vorden ehrenhaften Traditionen seines hohen Amtes handelte oder ob er ganz einfach seinem Gewissen gehorchte. Als der Fürst wie sein Vorgänger über die grauenhaften Ereignisse unterrichtet wurde, die alle Winkel Kleinasiens verheerten, übermittelte er jedenfalls im August 1915 eine Protestnote an die Hohe Pforte. „Die Botschaft Deutschlands sieht sich auf Anweisung ihrer Regierung gezwungen, erneut gegen diese Greueltaten zu protestieren und jede Verantwortung für die Folgen abzulehnen, die daraus erwachsen können.“ Es steht nicht eindeutig fest, ob der Fürst wirklich auf Anweisung der Reichsregierung oder aus eigener Initiative interveniert hatte. (Offenbar machte ihm sein Vorgesetzter, der Unterstaatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, diese Einmischung zum Vbrwurf.) Die Männer des Komitees für Einheit und Fortschritt sahen die Vorhaltungen der deutschen Freiherren, Fürsten und Pastoren als belanglos an. Noch weniger Beachtung . schenkten sie, falls so etwas möglich war, den Meinungen der Romanen und Angelsachsen. In Charput, von allem weit entfernt, ohne jede Hilfe, in seiner Korrespondenz überwacht, erfüllte das den amerikanischen Konsul Leslie Ammerton Davis mit düsteren Sorgen. Was er seit endlosen Wochen beobachtete (er schrieb im Juli), was er wußte und was er erfuhr, gab ihm das Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit ein: „Es ist kein Geheimnis, daß der vorgesehene Plan darin bestand, die armenische Rasse als Rasse zu vernichten, aber die angewandten Methoden wurden kaltblütiger und barbarischer, wenn nicht wirkungsvoller verwendet, als ich es zunächst angenommen hatte … Ich glaube nicht“, fügte der würdige Vertreter des Sternenbanners hinzu, „daß es in der Weltgeschichte jemals ein derart allgemeines und radikales Massaker wie jenes gegeben hat, das gegenwärtig in dieser Region ausgeführt wird, oder daß der menschliche Geist jemals einen abscheulicheren und teuflischeren Plan ersonnen hat.“ Das ereignete sich unter Kriegsbedingungen, abseits von allen belebten Straßen, auf kahlen Bergen, am Ufer abgelegener Seen, an den endlosen Gleisen der Bagdadbahn, die man auf glühendheißem Felsboden verlegt hatte in Landschaften, die fremden Blikken unzugänglich waren. Trotzdem geschah es, daß jemand vorbeikam. Dschemal Pascha, der Oberbefehlshaber des in diesen Gebieten stationierten Heeres, untersagte deshalb als Sicherheitsmaßnahme grundsätzlich, daß man Photos machte; daß irgendein Bild die flüchtige Wirklichkeit festhielt. Unbesonnene und leichtfertige Zuwiderhandelnde, die ihm nicht binnen 48 Stunden die verbotenen Negative übergeben hätten, sollten mit der ganzen Strenge der osmanischen Militärjustiz behandelt werden. (Später wird Dschemal Pascha behaupten: „Mir ist überhaupt nichts über die Gründe für die Deportation der armenischen Bevölkerung bekannt, die von meinen Regierungskollegen beschlossen wurde. Sie haben mich zu diesem Thema nicht konsultiert.“) Die grauenhaften Ereignisse gelangten jedoch den unbefugtesten Fremden zu Ohren und enthüllten sich den Blikken selbst der Menschen in weitester Ferne, denn an jedem Ort und zu jeder Zeit ist es unvermeidlich, daß das am eifersüchtigsten gehütete Geheimnis ruchbar wird. Ende August 1915 veröffentlichte der römische Messaggero ein Interview mit Commendatore Gorrini, dem ehemaligen Konsul des Königreichs Italien in Trapezunt, über seine Beobachtungen und das, worüber er sprechen konnte. „Das war ein wirklicher Ausrottungsfeldzug“, klagte der Konsul, „ein Massaker wie das des Herodes; es gab unvorstellbare Dinge, eine pechschwarze Episode, die von der flagrantesten Verletzung der heiligsten Menschenrechte gebrandmarkt war.“ Die Jungtürken hätten wissen müssen, wie empfindlich die Romanen, ganz besonders die Italiener, reagieren und wie leicht sie zu beeindrukken sind. Was der Diplomat mit angesehen hatte, brachte ihn sogar um den Schlaf: „Ich wurde von Nervenkrisen und Übelkeitsanfallen gepeinigt, so schrecklich war die Qual, weil ich die Massenhinrichtung dieser unschuldigen und schutzlosen Geschöpfe miterleben mußte.“ Die Griechen, die weitgehend abgehärtet waren, weil sie sich so sehr an die Gewalttaten der Balkankriege gewöhnt hatten, fühlten sich in ihrer Haut auch nicht wohl. Der schrekkensstarre hellenische Vizekonsul in Konya schilderte seiner Botschaft die Unruhe, die bei seinen Glaubensgenossen der Anblick der Karawanen von abgemagerten und verstörten Phantomen hervorgerufen hatte: „Die Griechen hier sehen die Ereignisse mit einem schrecklichen Gefühl an, weil sie die Vorahnung haben, daß das gleiche Schicksal auch sie erwartet.“ (Er konnte sich mühelos vorstellen, was möglicherweise in nächster Zeit für sie bestimmt war.) Am 9. Oktober 1915 druckte das von Familien sehr geschätzte Pariser Magazin L’Illustration auf Seite 386 seiner Nummer 3 788 einen zwanzigzeiligen Bericht unter dem Titel „Die Ausrottung der Armenier“ ab, der mit den Photos von zerlumpten Flüchtlingen ausgeschmückt war. Wenige Tage zuvor, am 6. Oktober, war der Viscount James Bryce im Londoner Oberhaus aufgetreten und hatte eine Anklagerede gehalten, wie sie nur die Schotten zu halten verstehen, um das erschreckende Verbrechen anzuprangern. „Die Berichte über die Massaker“, erklärte er, „haben mich von verschiedenen Seiten erreicht, doch sie stimmen alle in den wesentlichen Punkten überein, und tatsächlich bestätigen sie sich gegenseitig… Demnach wurden offenbar drei Viertel oder vier Fünfiel der gesamten armenischen Nation vernichtet; und es gibt keine Geschichtsepisode, gewiß nicht seit der Zeit Tamerlans, die von einem solch entsetzlichen und in solch großem Maßstab verübten Massaker berichtet.“ Selbst bei den Antipoden, auf jenem fernen, wunderbaren und nackten Kontinent, dem sich als erste Willem Janszoon, Dirk Hartog und der Pirat William Dampier genaht hatten, vernahmen die treuen Leser des Brisbaner Courier, des Adelaider Register, der Blätter von Victoria und selbst des Mercury im eisigen Tasmanien einen langen Widerhall der in Anatolien ausgestoßenen Seufzer. „Szenen eines Gemetzels“, „Die hingeschlachteten Armenier“, „In die Wüste gebracht,“ um den Tod zu finden“, „Über eine Million Opfer“ Die ganze Welt wußte Bescheid und erstarrte vor Entsetzen.
Die Jungtürken fühlten sich sehr isoliert und waren über diesen Zustand empört. Dabei hatten sie es doch nicht daran fehlen lassen, sich großzügig zu zeigen und verschwenderische Summen auszugeben, womit sie ihre Güte und Spendenfreudigkeit beinahe übertrieben. In den Genuß ihrer Freigebigkeit gelangten Gazetten und Zeitungen, Direktoren und Redakteure der Rechten und der Linken, hier und dort. 600 000 Francs für Le Petit Parisien, 250 000 Francs für Le Gaulois und Zehntausende Francs auch noch für La Libre Parole und L’Aurore und L’Action und L’Excelsior und L’Intransigeant, um nur von Frankreich zu reden. Die Jungtürken hatten den früheren Werbeleiter Leon Regnier in der Tasche, dem sie 500 000 Goldfrancs bezahlten. Sie bewahrten sich einige zuverlässige Freunde unter den Literaten und Militärs. Der deutsche Marineattache Humann, der stolz darauf war, daß er den schönsten Teil seines Lebens in der Türkei verbracht hatte und deshalb ihre Seele gründlich verstand, bekannte sich zu den Prinzipien, die nach seiner Ansicht den Gang der Gesellschaften zu Recht bestimmten: „Die schwächere Nation muß unterliegen“, erklärte er immer wieder. Und er setzte hinzu: „Enver Pascha kann keiner Fliege etwas zuleide tun. „Enver Pascha hatte nichts gegen Fliegen. Die Jungtürken waren brave Leute. Hervorragende Vertreter der großen Nationen erkannten das an. Der französische Schriftsteller Pierre Loti, der auf Kriegsschiffen um die Welt fuhr, machte sich überall Notizen, wo er durchkam, und gönnte sich in den Häfen ein schönes Leben. Er besaß ausgiebige Erfahrungen. Loti hatte hinter der Front die Plünderung Pekings durch die Truppen des Abendlandes miterlebt, als der Boxeraufstand niedergeschlagen wurde. Pierre Loti liebte die Marine aus Gründen der Exotik und schwärmte für Verkleidungen. Die „Formidable“ hatte ihn bis nach Algier spazierengefahren, die „Redoutable“ hatte ihn nach China gebracht und die „Vautour“ an den Bosporus. Er ließ sich als Mandarin, Pharao und Türke photographieren, und man hätte ihn für einen Spinner halten können, wenn man ihn nicht in die Academie francaise gewählt hätte, wo er den Sitz Nummer 13 innehatte. Nun war aber ein Akademiker zwangsläufig über jede Kritik erhaben. Der Schriftsteller liebte an der Türkei, was ihm wahrhaft türkisch vorkam. Er trug einen Fes und rauchte eine Nargileh, die ihm sein Diener Hassan vorbereitete. Pierre Loti vergötterte Sultan Abd-ül Hamid, der ihn früher an seine Tafel geladen und ihm einen „berauschenden Luxus“ geboten hatte. Er hatte auserlesene Speisen genossen, köstliche Liköre, vortreffliche Patisserien, purpurfarbene Weine, schaumige Sorbets. Das alles wurde auf goldenem Geschirr von ganzen Dienerscharen in roten, mit kostbaren Fäden bestickten Trachten serviert, die ebenso schön wie Sonnen und Monde waren. Er hatte an Duftäpfeln gerochen und auf blauen Seidenkissen sitzend der Laute aus Aloeholz und wunderschönen Stimmen gelauscht, deren Timbre ihn begeisterte. Loti wußte von der Türkei alles, was man wissen mußte. Da es den entthronten Sultan nicht mehr gab, unterstützte Loti nun die Jungtürken des Komitees für Einheit und Fortschritt (obwohl er für den Fortschritt nur recht wenig übrig hatte). Pierre Loti stieß also seine spitze Feder in die Wunde und wühlte immer wieder darin herum. Die Türkei ist schlecht bekannt, betonte er, und die Türken werden stets und ständig verleumdet und beleidigt. „Zeitlebens habe ich gesagt, daß sie das gesündeste, das anständigste Element des ganzen Orients darstellen, und auch das toleranteste. “ Darum hatte er seiner Broschüre den Titel Die Massaker in Armenien gegeben, um diese Anschuldigungen gebührend zu widerlegen. Denn Europa lästerte immer noch, immer weiter, ohne Unterlaß über dieses scheußliche Thema, als müßte es sich nicht über ganz andere Probleme den Kopf zerbrechen. „Die armen Türken!“ klagte er, „was sie in Europa auch immer tun, immer setzt man sie ins Unrecht… Die heimliche Koalition aller sogenannten christlichen Völker wird nie Ruhe geben. Und sie wissen auch, daß diese unseligen Armenier ihnen gegenüber immer, selbst in den ruhigsten Stunden, als unheilvolle und scheinheilige Denunzianten auftreten.“ Daß diese Pechvögel, die Armenier, unter Massakern gelitten hatten, stellte Pierre Loti nicht in Abrede. Wie hätte er das auch tun können, da das vergossene Blut noch nicht getrocknet war, die Knochen noch nicht ausgebleicht waren? Das gab allerdings keinen Grund ab, seihe Freunde fallenzulassen. Wer wird es denn wagen, fragte er, den ersten Stein gegen die Mörder zu werfen? Waren die Franzosen nicht schuld an der Bartholomäusnacht, an den Dragonaden, der Schrekkensherrschaft und der Pariser Kommune? Und die Spanier an der Inquisition, der niederträchtigen Vertreibung der Juden, denen allein das Osmanische Reich eine freundliche Aufnahme bieten konnte? Und was sollte man über den widerwärtigen deutschen Kaiser „mit den blutdürstigen Fangarmen“ sagen! (In seinen Visionen stellte sich Loti den Kaiser mit Fangarmen vor, gleichsam wie die monströse Nautiluskrake.) Der Hang zum Massaker, fuhr er fort, lauert bis zum Ende der Zeiten am Grund der menschlichen Seele, er ist allen Völkern eigen, doch nur den Türken verzeihe man nichts, nicht die gepfählten Frauen, die den Hunden vorgeworfenen Kinder, die Gerippe am Wegesrand. „Ja, leider, es stimmt! Die Türken haben Massaker verübt! Dennoch behaupte ich, daß man bei der Schilderung ihrer Bluttaten wahnsinnig übertrieben und die Einzelheiten absichtlich verschlimmert hat. Ich behaupte auch — und dort unten wird es niemand wagen, mir zu widersprechen—, daß der größte Anteil an den begangenen Verbrechen auf die Kurden ent fällt, die ich niemals verteidigt habe.“ Die Türken, die überhaupt nicht verantwortlich waren, verdienten mildernde Umstände für das, was sie nicht begangen hatten. Denn man mußte zugeben, und die Welt — Frankreich, Italien, Spanien und alle Völker der Erde — sollte es erfahren, daß die Armenier, für die der Schriftsteller Mitleid und Erbarmen empfand und die er weeen des Übermaßes der sie heimsuchenden Mißgeschikke aufrichtig beklagte, daß diese Armenier unsympathisch waren. An diesem Punkt der verschlungenen Argumentationskette Pierre Lotis gab es eine Lücke in der gelben, in Paris veröffentlichen Broschüre. Die offensichtliche Leerstelle der Zensur. Auf den Seiten 27 und 28 hatte die Regierungsschere den Gedankengang des Akademikers gestutzt. Man war ja im Krieg, und was er schrieb, konnte nicht gedruckt werden, ohne die Moral der Kämpfer zu gefährden, der Soldaten in den Schützengräben, an den Dardanellen, in der Levante. Eine spätere Nachauflage setzte die fehlende Passage wieder ein, da man nun die Dinge abermals sorglos betrachten konnte. Die Armenier waren also unsympathisch. Loti hatte bei ihnen nur Perfidie und arglistige Kniffe entdeckt. „Ich möchte beinahe sagen, daß die Armenier in der Türkei wie Würmer sind, die eine Frucht zernagen, denn mit jedem erdenklichen Mittel ziehen sie sämtliches Gold an sich, vor allem durch Wucher, wie früher die fuden in Rußland.“ Pierre Loti, der sich gern als mächtiger Scheich vom Dschebel kostümierte, mit einem Messer im Gürtel und auf den Knien liegendem Krummsäbel, glich dem Alten vom Berge wie ein Bruder. Seine Broschüre brachte ihm den Beinamen „Freund der Menschenschlächter“ ein. Doch jener Mann, der sich als Osiris, als Gottkönig des alten Ägyptens, als chinesischer Großmandarin in der Verbotenen Stadt, als transjordanischer Emir und als türkischer Bergkrieger aufputzte; jener Unsterbliche, der in der Academie francaise den Sitz Nummer 13 innehatte, kümmerte sich darum nicht mehr als um die Ereignisse des Jahres 1915.
Als Botschafter Morgenthau die Türkei für immer verließ, kam er zum letztenmal mit dem Innenminister zusammen. Talaat Pascha war damals in heiterer und leutseliger Laune. „ Wir hoffen, daß Sie bald zurückkommen … Wir haben Sie trotz unserer manchmal recht ausgeprägten Meinungsverschiedenheiten liebgewonnen…“ Warum mußte der amerikanische Botschafter dann kurz vor der Abreise gegen die Anstandsregeln verstoßen und noch einmal auf das Thema zu sprechen kommen, das für die Ohren des Paschas so schwer zu ertragen war, um ihn mit nutzlosen Fragen zu belästigen? „Und die Armenier?“Talaats Gesicht verzerrte sich, seine Augen starrten bösartig: „ ‚Wozu noch einmal von ihnen reden, sagte er mit einer wegwerfenden Geste, ‚wir haben sie liquidiert. Damit ist Schluß.'“ Ein paar blieben Mitte Januar 1916 noch immer übrig, in den Lagern, den Waisenhäusern der Missionen, der Umgebung Aleppos und den Wüsten von Deir-ez-Zor, aber Talaat war nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ein durchreisender deutscher Beamter entdeckte, daß die Strecke nach Meskene mit zerrissenen Kleidungsstücken, herumliegenden Wäschefetzen und Stoffresten übersät war, als hätte sich hier eine Menschenmenge aufgelöst und wäre unter der Erde verschwunden. Oberleutnant Bunte, ein Diplomingenieur, fand viele Schädel und Gerippe am linken Ufer des Flusses Chabur, den er vom Euphrat aus hinaufgezogen war. Diejenigen, die sich an Ort und Stelle befanden — Nonnen, Geistliche, Ärzte und Krankenschwestern, diplomatische Vertreter und Militärs —, nahmen übereinstimmend an, daß die Zahl der Getöteten über eine Million hinausging und sich anderthalb Millionen „näherte. Die bewährtesten Botschafter wurden plötzlich von Panik gepackt, als sie feststellten, daß ihre Vorhaltungen, die Ratschläge der befreundeten Länder, die Drohungen der feindlichen Mächte, die Bitten des Apostolischen Nuntius und die öffentliche Schande die Jungtürken nicht von der Ausführung ihres teuflischen Programms hatten abbringen können. Aber der Weltkrieg war zu Ende. Überall gerieten die Kaiserreiche ins Wanken. Der russische Zar beugte das Knie vor den ausgehungerten Muschiks. Lenin rief die Welt zum revolutionären Umbruch auf. Die Kronen rollten nacheinander in die Gosse. Im Kieler Hafen hißten abgemagerte und erschöpfte Seeleute am Topp ihrer Schiffe die Flagge der Rebellion, verabschiedeten ihre unfähigen Offiziere, trugen die Idee eines allgemeinen Umsturzes nach Hamburg, Lübeck und Bremen. Sogar Bayern entdeckte seine demokratische und soziale Bestimmung. Der Thron Wilhelms, des Kaisers mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart, brach zusammen. Österreich-Ungarn zerfiel in Bruchstücke. In Budapest gründete man eine Republik. Die Südslawen schlossen sich zu Jugoslawien zusammen. Das Europa Sissis hatte aufgehört zu existieren. Im Morgengrauen des 1. November 1918 flüchteten die Führer der jungtürkischen Regierung. Talaat Pascha, Enver Pascha, Dschemal Pascha mit dem schwarzen Bart und den glühenden Augen, Doktor Nazim und Doktor Schakir. Sie alle verströmten Leichengeruch und kletterten an Bord eines deutschen Schiffes, wie die einen behaupteten, eines Unterseeboots, wie die Romantischeren versicherten, um nach Odessa am Schwarzen Meer zu gelangen. Dann schwärmten sie nach Europa aus. Die Türkei des Komitees für Einheit und Fortschritt gehörte der Geschichte an. Das verblüffte und schicksalsergebene Konstantinopel betrachtete die im Bosporus ankernden Fregatten, Zerstörer, Kreuzer und Panzerkreuzer der Alliierten, die „Süperb“ der Briten, die „Leonardo da Vinci“ der Italiener, die „Democratie“ und die „Diderot“ der Franzosen, dem Kaiserpalast gegenüber. Auf den Straßen von Pera schritten gemischte Gendarmeriepatrouillen über das Pflaster. Die einen Fes tragenden Türken bewegten sich ungezwungen in der Gesellschaft von Italienern im Zweispitz und von Franzosen mit Käppis. So war es nun einmal. Es stand geschrieben. Die Stunde der Abrechnung hatte geschlagen. Das Osmanische Reich legte sich eine neue Regierung zu, und die neue Regierung setzte ein Kriegsgericht ein, um der alten Regierung der Landesflüchtigen, die die Türkei in einen solchen Abgrund gestürzt hatten, den Prozeß zu machen. Die Paschas und ihre grauen Eminenzen wurden in absentia verurteilt, weil sie geflohen waren und Zusammenbruch und Verfall als Erbe hinterlassen hatten. „Der wesentliche Punkt, der sich aus der eingeleiteten Untersuchung ergibt, ist, daß die Verbrechen, die bei der Deportation der Armenier an unterschiedlichen Orten und unterschiedlichen Zeiten begangen wurden, keine isolierten und lokal grenzten Sachverhalte sind. Vielmehr hat eine organisierte zentrale Macht, die aus den obengenannten Personen bestand, sie geplant und aufgrund von geheimen Befehlen oder mündlichen Anweisungen durchführen lassen.“ So wurden denn Talaat Pascha, der ehemalige Innenminister und Großwesir, Enver Pascha, der ehemalige Kriegsminister und Generalissimus, Dschemal Pascha, der ehemalige Marineminister, Doktor Nazim, der ehemalige Volksbildungsminister, Doktor Behaeddin Schakir, das Mitglied des aufgelösten Komitees für Einheit und Fortschritt und der Spezialorganisation, entsprechend den Artikeln 45 und 170 des osmanischen Strafgesetzbuches, wie im Artikel 181 desselben Gesetzbuches näher ausgeführt, für ihre Verbrechen und Übeltaten in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Das Urteil blieb zwangsläufig eine bloße Absichtserklärung.
Da diese Spießgesellen aber frei und bei guter Gesundheit waren, machten sie es sich in Berlin bequem, denn sie verwalteten ja ein großes Vermögen von Gütern und Schätzen, die sie in ihren Ministerämtern angehäuft hatten. Danach trennten sie sich, um ein neues Leben zu beginnen, jeder für sich und die Vorsehung für alle. Sie wurden weder von Schuldgefühlen noch von Kümmernissen oder irgendeinem anderen Gefühl überwältigt, das sie hätte entmutigen können, und sie verzichteten nicht darauf, eines Tages ihre visionäre Vergangenheit von den Toten auferstehen zu lassen. Dschemal begab sich auf die steilen und steinigen Pfade Afghanistans, um seine Fachkenntnisse in den Dienst des Königs Aman Ullah zu stellen, dessen Militärberater er wurde. Enver liebäugelte mit dem Traum eines neuen Reiches, das im Kaukasus aus dem Chaos hervorgehen sollte. Man weiß nicht, durch welche Fügung sich sein Schicksal mit dem Karl Radeks kreuzte, eines kleinen Kerls mit Pfeife und Brille, der als Propagandist der Komintern, der von Lenin in Moskau proklamierten Internationale der Proletarier, ungeduldig in einem Berliner Gefängnis ausharrte. Dieser Radek war ein erbärmlicher Politiker, eine zweitrangige Figur des Bolschewismus, der seine Ausbildung in der Sozialdemokratie Polens und Litauens erhalten hatte; ein Freund des Tschekisten Felix Dscherschynski; ein wegen seiner vielen Sprachkenntnisse nützlicher Mann, der den Auftrag hatte, im Untergrund die Entwicklung der Kommunistischen Partei Deutschlands zu beobachten. Da er sich jedoch ungeschickt anstellte, ließ er sich von der Polizei fassen. In seiner Zelle schrieb er Pamphlete, verfolgte die Tagesereignisse und hielt den Kontakt nach draußen aufrecht. „Mir ist es gelungen, mit Talaat Pascha und Enver Pascha sowie gleichzeitig mit den Vertretern der Orientpolitik der politischen Führungskreise Deutschlands in Verbindung zu treten“, verkündete er, ohne diese Ungereimtheit näher zu erläutern. Radek war ein Radikaler, der nicht weiter sah, als seine Nasenspitze reichte. Er trug von überallher unsinnige Einfalle zusammen und glaubte jedesmal, daß er dem reimtheit näher zu erläutern. Radek war ein Radikaler, der nicht weiter sah, als seine Nasenspitze reichte. Er trug von überallher unsinnige Einfalle zusammen und glaubte jedesmal, daß er dem Imperialismus übel mitgespielt habe. Ein britischer Diplomat, mit dem er Kontakt aufnehmen mußte, sah in ihm eine verblüffende chemische Synthese aus einem Professor und einem Banditen. Wie dem auch sei, jedenfalls nahm er sich vor, Enver Pascha in die Sowjetunion mitzuschleppen, um ihn als Trumpfkarte in seinem Spiel zu benutzen. Das ließ sich nicht auf der Stelle arrangieren und war auch nicht so leicht. Ein höherer Offizier der Reichswehr sollte den Pascha mit einer falschen Identität ausstatten und in ein Junkers-Flugzeug setzen, das ein paar Geschäftsleute nach Moskau beförderte. „Ich fliege zusammen mit Doktor Nazim“, schrieb Enver an Dschemal, der irgendwo im Orient verschwunden war. „ Unsere hiesigen bolschewistischen Freunde erklären sich einverstanden, uns zu helfen, wie es den Ideen entspricht, die wir bei unseren Gesprächen diskutiert haben.“ Doch bei einer notwendigen Zwischenlandung in Litauen geriet Enver Pascha in den Verdacht, ein Spion zu sein, und man brachte ihn für einige Zeit hinter Schloß und Riegel. Bei einem zweiten Versuch wurde er in Riga festgenommen. Aller guten Dinge sind drei, und beim dritten Anlaufkonnte ihn Moskau endlich mit offenen Armen empfangen. Die russischen Archive Werden einem gewissenhaften Forscher wahrscheinlich die Einzelheiten über seine Beziehungen und seine Tätigkeit offenbaren. Es steht jedenfalls fest, daß eine von ihm verfaßte Erklärung auf dem Kongreß der Völker des Ostens in Baku verlesen wurde. Dieser Kongreß fand unter dem Vorsitz von Sinowjew und Radek statt, und an ihm nahm der Amerikaner John Reed teil. Im Stadttheater fand sich eine bunte Menge zusammen: Perser, Kirgisen, Kumyken, Tadschiken, Usbeken, Kasachen, Lesghier, Tschetschenen, Inguschen, Georgier, Turkmenen, Türken und Armenier mit einer inneren Einstellung, die so rot wie die im Wind flatternden Fahnen war. Sie klatschten in die Hände, legten die Füße auf die Sessel, schrien Hurra, sprangen auf und riefen, wenn das verlangt wurde: „Es lebe Genösse Sinowjew, unser Führer und der Führer des Weltkommunismus!“ — „Es lebe Genösse Radek, ein Führer des internationalen Proletariats!“ Sie trauerten um Schaumian und Dshaparidse, die als Brüder im Kampf gefallen waren und als Vorbilder hingestellt wurden. An der Ecke eines Platzes, wo ein Demonstrationszug vorbeikam, an einer erhöhten Stelle, saß nun Enver Pascha hoch zu Roß und ließ sich ebenfalls bejubeln. Envers Anwesenheit in Baku gefiel nicht gerade allen Leuten: Sie ging Sinowjew gegen den Strich, der alle Hochrufe auf sich vereinen wollte, und sie paßte auch nicht den armenischen Delegierten, ja nicht einmal den Turkmenen und vor allem nicht den Frauen, die für ihre eigene Sache eintraten.
„Ich will die Organisation der islamischen Revolutionäre aufbauen“, prophezeite Enver, solange er sich in der Sowjetunion aufhielt, und er streckte den Kommunisten die Hand hin, die haufenweise Banknoten verteilten. Der Pascha gewöhnte es sich an, die anderen mit „Genösse“ anzureden, und strich 500 000 deutsche Mark ein. Er reiste nach Italien, in die Schweiz und nach Deutschland, um seine Pläne umzusetzen. Für die gefallenen Engel des jungtürkischen Regimes interessierten sich jedoch nicht nur die Bolschewiken. In Boston, Genf, Tiflis und anderen Orten, wohin sie das Schicksal verschlagen hatte, hatte eine Handvoll Daschnaken geschworen, das Urteil des osmanischen Gerichts zu vollstrecken. Sie planten ihre Aktion im Zeichen der Nemesis, der griechischen Rachegöttin. Am 15. März 1921 gegen elf Uhr, an der Nummer 17 der Hardenbergstraße im Bezirk Charlottenburg, tötete ein schüchterner junger Mann, der Soghomon Tehlirian hieß, ein Maschinenbaustudent aus Erzindschan, Talaat Pascha mit einem einzigen Pistolenschuß, während er gerade „in einem dicken Wintermantel“ nahe am Zoologischen Garten seinen Geschäften nachging. Eine einzige Kugel hatte also genügt, um den ehemaligen Innenminister ins Jenseits zu befördern. Die 9-Millimeter-Kugel traf ihn im Genick und trat über dem linken Auge wieder aus, hinterließ an der vorderen Kopfseite ein Loch, in das man einen Finger stecken konnte. Die Waffe, ein deutsches Markenfabrikat, war im Jahre 1915 hergestellt worden. Der Schütze wurde von Passanten verfolgt und bald eingeholt. Sie verprügelten ihn gnadenlos, während er mit einem sonderbaren Akzent rief: „Ich Armenier, der da Türke, das Deutschland nix angehen“ (oder: „Ich Armenier, der da Türke, nix schlimm für Deutschland“ — denn die Zeugen erinnerten sich nicht wortgetreu daran, was sie gehört hatten). Man brachte den jungen Mann zur Polizeiwache. Er wurde des Mordes angeklagt und vor Gericht gestellt. Der Prozeß fand in Berlin statt. Man sprach ihn frei, weil sich erwiesen hatte, daß sein Opfer zwar den Titel eines Paschas trug, aber eine Kanaille reinsten Wassers war, ein ordinärer Mörder, der zahllose Verbrechen auf dem Kerbholz hatte, ein zum Tode Verurteilter auf der Flucht, der sein Schicksal verdiente. Zu diesem Urteil kamen die Mitglieder des Berliner Gerichts, und Soghomon Tehlirian verließ den Saal als freier Mann. Talaat Paschas Freunde nahmen das mit Bedauern zur Kenntnis und lebten fortan in Angst und Schrecken. In demselben Jahr, Anfang Dezember, wurde Said Halim Pascha, der ehemalige Großwesir, in Rom vor seinem luxuriösen Stadthaus niedergeschossen. Ihn traf Arschawir Schirakian mit seiner Gold Browning. Danach — am Ostermontag, dem 17. April 1922, gegen Mitternacht — erlag Doktor Behaeddin Schakir in Berlin einer Kugel, die ihn mitten in die Brust traf. Das geschah, wie Spaziergänger berichteten, die sich nur unklar erinnern konnten, nicht weit von einem Kino, das Fritz Längs Dr. Mabuse brachte. (Tatsächlich war es aber offenbar so, daß der Film erst zehn Tage später herauskam; doch der Roman über den großen Verbrecher — „ein Bild unserer Zeit“ — war bereits.in Fortsetzungen erschienen, die man in der Berliner Illustrirten Zeitung nachlesen konnte.) Dschemal Pascha nahm am Begräbnis Doktor Schakirs teil, und danach verschwand er wieder in den Weiten des Orients. Stepan Dsaghigian erfuhr, daß man den Aufenthaltsort Dschemals herausbekommen hatte, als er in Batum das chiffrierte Telegramm erhielt: „Schicken Sie das Paket ab.“ Zu dritt — er und Attaches Kevorkian sowie Bedros Der-Bohossian — lauerten sie dem Pascha auf, der am Nachmittag des 25. Juli 1922 in Tiflis vor dem Gebäude der Tscheka von Kugeln durchsiebt zusammenbrach.
Enver fühlte sich einsam. Der Tod kreiste ihn ein. Er begab sich nach Buchara, der schönsten Perle des Orients, wo sich die Basmatschen gegen die Ungläubigen erhoben; gegen jene, die nicht den Propheten, seine Gesetze und Sitten fürchteten. Enver bedeckte sein Haupt mit dem weißen Turban des Beherrschers der Gläubigen und legte sich den Titel eines Schwiegersohns des Kalifen zu. Er wurde Oberbefehlshaber der Heere von Buchara, Chiwa und Turkestan, er kommandierte die islamischen Streitkräfte von Groß-Turan. Auf Derwisch, seinem Schlachtroß mit den goldenen Hufeisen, ritt er durch die verdorrten Steppen, am Grund der tiefen Schluchten und über die hohen Berge. Dort holte ihn der große Vertilger ein, der Sensenmann, der unerbittlich Gräber schaufelt. Eine Abteilung der Roten Kavallerie stöberte ihn am 4. August 1922 in seinem Schlupfwinkel auf. Es heißt, Enver Pascha sei von sieben Kugeln durchbohrt worden und man habe ihm den Kopf mit der scharfen Klinge eines Säbels abgehauen. An seiner enthaupteten Leiche soll man einen Koran gefunden haben. Es heißt weiter, er habe einen englischen Herrenanzug und deutsche Stiefel getragen, und in seinen Taschen habe man Zeitungen aus Britisch-Indien und Briefe aus Berlin entdeckt. Manche behaupten, daß ihn ein armenischer Spion namens Agabekow an die Bolschewiken ausgeliefert habe. Andere versichern, das sei nicht wahr, das habe sich ganz anders zugetragen, aber schließlich hätten die Kavalleristen, die ihn zur Rechenschaft zogen, zu einer armenischen Brigade gehört. Nun war auch der dritte Pascha tot, unwiederbringlich dahingegangen. Doktor Nazim, der Führer der Spezialorganisation, kehrte frei von Sorgen in die Türkei zurück. Er hätte friedlich in seinem Bett entschlummern können, wäre er nicht auf den unseligen Gedanken verfallen, eine Verschwörung gegen Mustafa Kemal anzuzetteln, den neuen Herrn des Landes, dem derartige Wahnideen im höchsten Grade mißfielen. Darum wurde Nazim erneut von einem Kriegsgericht verurteilt und an den Galgen gebracht. 1926 wurde er gehenkt, zusammen mit seinem Freund Dschawyd, dem Finanzgenie des Komitees für Einheit und Fortschritt.
An diesem Punkt endet, so könnte man meinen, die unsägliche Chronik über den Sultan und die drei Paschas, die als seine Nachfolger das Land der Minarette in einen finsteren Abgrund stürzten. Die Augen haben nie vergessen, was sie sahen, und auch nicht die Ohren, was sie hörten. Doch die Geschichte hat kaum moralische Nutzanwendungen zu bieten. 1943 verehrte Adolf Hitler, der arische Kanzler des Deutschen Reiches, dem türkischen Staat die sterblichen Überreste Talaat Paschas. Und die Türkei errichtete auf dem Hügel der Freiheit ein Mausoleum zum Ruhme des ehemaligen Innenministers. Als wäre dies nicht genug für eine solch angesehene Persönlichkeit, erhielt auch noch ein Boulevard in Ankara seinen Namen, um den Segen der heutigen und künftigen Geschlechter auf ihn herabzuwünschen. Am 4. August 1996 wurde die sterbliche Hülle Enver Paschas aus dem postsowjetischen Tadschikistan heim ins Reich geholt und mit allen gebührenden Ehren bestattet. Staunend, voller Achtung und Bewunderung, nahm ein ganzes Volk daran Anteil, und der brillante und stolze Präsident der Republik, Suleiman Demirel, war dabei. Dschemal Pascha, der Bärtige unter den Kumpanen, der immer etwas im Hintergrund gestanden hatte, wurde in Erzerum geehrt. Er war seit achtzig Jahren tot, als am 21, Juli 2002 eine raunende, rufende und bewundernde Menge an seinem Grabe zusammenströmte, um ihn zu lobpreisen. Da zeigte sich zum allgemeinen Unglück und zur Verzweiflung der Überlebenden, daß der Geist des Alten vom Berge immer noch über die Türkei herrschte.
Als er zu diesem Teil seiner Erzählung gekommen war, sah er, daß der Morgen graute, und er verstummte diskret.
AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON ULRICH KUNZMANN
Die deutsche Fassung erschien in „Lettre International“, No. 68 (April 2005).