Seit der umstrittenen Novellierung des türkischen Grundgesetzes (2007) dürfen die Bürger/Innen des Landes alle vier statt bisher fünf Jahre ihre Gesetzgeber neu wählen. Die erfolgreichsten Parlamentsparteien waren bei den letzten Wahlen 2007 die konservative und regierende Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP; Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung; 46,6%), die oppositionelle kemalistische Cumhuriyet Halk Partisi (CHP; Republikanische Volkspartei; 20,9%), die rechtsextremistische Milliyetçi Hareket Partisi (MHP; Partei der Nationalen Bewegung; 14,3%) sowie die sozialdemokratische und kurdenorientierte Barış ve Demokrasi Partisi (BDP; Partei für Frieden und Demokratie; 5,2%). Nach Wählerumfragen wird sich an dieser Stimmen- bzw. Sitzverteilung wenig ändern: Bei den letzten Umfragen im März-April 2011 konnte die AKP 48.2 – 51.2 %, die CHP 24.4 – 28.8 %, die MHP 10.7 – 15.0 % und die BDP 4.3 – 6.6 % der Stimmen für sich entscheiden. Letztere wird, ebenso wie andere kleine Oppositionsparteien, an der hohen 10-Prozent-Hürde scheitern. Diese Hürde treibt auch zahlreiche potenzielle Anhänger kleinerer Parteien dazu, ihre Stimmen den drei großen Parteien zu erteilen.

Die AKP-Regierung unter Premierminister Erdoğan stellt sich gern als reformistisch und europa- orientiert dar. Aber gerade weil sie auch 2011 vermutlich siegreich aus den Wahlen hervorgehen wird, ist ein kritischer Blick auf ihre bisherigen Leistungen bzw. Versäumnisse angesagt. Wir tun dies unter dem Aspekt der Minderheiten- und Nationalitätenpolitik, die, nebst der Meinungsfreiheit, auch in der zurückliegenden Legislaturperiode 2007-2011 die von internationalen und nationalen Beobachtern am meisten gerügten Desiderate aufweist. Um nur einige wenige Beispiele anzuführen:

  • Nach wie vor besitzt die Türkei kein Antidiskriminierungsgesetz oder Minderheitenschutzgesetze. Zwar kam es nach Jahrzehnten der systematischen Entrechtung nichtmuslimischer Minderheiten zu partiellen Verbesserungen, doch ist diese Entwicklung insgesamt durch Halbherzigkeit geprägt und bleibt in der Regel symbolisch bzw. kosmetisch.
  • Es reicht bei weitem nicht aus, den 1912-1922 vernichteten und vertriebenen christlichen Nationen des vormaligen Osmanischen Reiches knapp einhundert Jahre post factum „großzügig“ zu gestatten, einmal im Jahr in Kirchen oder Klöstern wie der Heilig- Kreuz-Kirche auf Achtamar oder dem pontosgriechischen Sumela-Kloster bei Trabzon/ Trapesunta abzuhalten. Eine wirklich überzeugende Geste der Versöhnung wäre die Rückerstattung dieser und anderer sakraler und spiritueller Zentren an die in Istanbul ansässigen armenischen und griechisch-orthodoxen Patriarchate gewesen.
  • Zwar dürfen inzwischen Kinder aus bi-religiösen Ehen mit nur einem armenisch-apostolischen Elternteil die nur in Istanbul existierenden armenischen Privatschulen besuchen, aber das Erziehungsministerium schließt weiterhin die Kinder von Migranten armenischer Staatszugehörigkeit vom Besuch dieser Schulen aus, trotz der in Aussicht gestellten Verbesserung der Lage.
  • Die vor Jahrzehnten geschlossenen geistlichen Seminare des Armenischen und Ökumenischen Patriarchats in Dprewank and Halki bleiben weiterhin geschlossen und damit der Priesternachwuchs in der Türkei weiterhin ein Problem.
  • Das letzte seelsorgerlich bedeutende syrisch-orthodoxe Kloster auf türkischem Staatsgebiet, Mor Gabriel, sieht sich seit Jahren einer Kette von Gerichtsverfahren ausgesetzt, die auf seine Enteignung und damit faktisch Vernichtung hinauslaufen. Obwohl die EU die Türkei immer wieder aufgefordert hat, ihre diesbezüglichen Gesetze zu ändern, wird christlichen Stiftungen weiterhin der Erwerb von neuem Grundbesitz verweigert – etc. etc.

Im außenpolitischen Bereich muss kritisiert werden, dass trotz großen Medienrummels im Herbst 2009 der Annäherungsprozess zwischen der Türkei und Armenien gescheitert ist, nachdem die Türkei ihr historisch ohnehin belastetes Verhältnis zu dem winzigen Nachbarn durch die Forderung zusätzlich beschwerte, Armenien müsse zunächst den Konflikt in und um Berg-Karabach lösen. Wenn man ein Problem nicht lösen will, verhindert man, wie in diesem Fall, jegliche Verbesserung durch die Anhäufung weiterer Forderungen, mit dem Ergebnis der Erstarrung im status quo. Folglich bleibt es bei der Fortsetzung der völkerrechtswidrigen Blockade der Landwege von und nach Armenien bzw. der geschlossenen türkischen Grenze.

Auch im Verhältnis gegenüber der kurdischen Bevölkerung der Türkei – der zweitgrößten Volksgruppe des Landes – hat die AKP-Regierung im Zeitraum 2007-2011 keinen überzeugenden Durchbruch gebracht (siehe nachstehend die Presseerklärung der Gesellschaft für bedrohte Völker zu den Wahlen vom 12.06.2011). Es steht also zu vermuten, dass ein Wahlsieg der AKP diesen Zustand nur fortsetzen wird. Allerdings könnte ein Sieg der beiden großen parlamentarischen Oppositionsparteien – Kemalisten und Rechtsextremisten – die Lage noch verschlimmern. In der Minderheiten- und Nationalitätenpolitik entscheiden also die Wähler/Innen nur zwischen unbefriedigend und schlimmer.


GESELLSCHAFT FÜR BEDROHTE VÖLKER
PRESSEMITTEILUNG

Göttingen, den 08.06.2011

Parlamentswahlen in der Türkei (12.06.2011) Kampfflugzeuge gegen Gaddafi – Freibrief für die Türkei? Deutschland und andere NATO-Länder sollen sich für demokratische Lösung der Kurdenfrage einsetzen

Nach den Parlamentswahlen in der Türkei am 12. Juni sollten Deutschland und andere NATO- Länder dafür Sorge tragen, dass endlich ein ernsthafter Dialog zwischen Vertretern der Kurden und der türkischen Regierung begonnen wird, fordert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Denn die Glaubwürdigkeit des Bündnisses steht auf dem Spiel. Während viele NATO-Länder bereit sind, die Demokratiebewegung in Libyen sogar durch den Einsatz von Kampfflugzeugen zu unterstützen, nehmen sie es in den eigenen Reihen offenbar nicht so genau, kritisiert die Menschenrechtsorganisation. Seit Jahrzehnten lassen die Nato-Staaten es zu, dass den rund 14 Millionen Kurden in der Türkei demokratische Rechte verweigert werden. Durch die kompromisslose Haltung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in der Kurdenfrage steht das Land sogar kurz vor einem blutigen Bürgerkrieg. Die deutsche Bundesregierung sollte auch mit Blick auf die in Deutschland lebenden 800.000 Kurden verstärkt für eine neue „Kurdenpolitik“ einsetzen.

Die Feindseligkeiten zwischen Türken und Kurden sind im Vorfeld der Wahlen enorm gestiegen, berichtete die GfbV. Immer wieder flackern blutige Gefechte zwischen Armee und der kurdischen Arbeiterpartei PKK auf. Erdogans AKP-Partei und die ultranationalistische MHP haben den Wahlkampf mit großer Aggressivität gegen die kurdische Volksgruppe geführt und dabei sogar religiösen Hass geschürt. So hat Erdogan die Zugehörigkeit der Kurden zum Islam öffentlich in Frage gestellt mit der Begründung, sie gehörten in vorislamischer Zeit der zoroastrischen Religionsgemeinschaft an. Zudem boykottierten viele Kurden in den vergangenen Wochen die „staatlichen Moscheen“ und verrichteten ihre Freitagsgebete auf öffentlichen Plätzen. Auch in der Wahlwerbung der staatlichen TV-Sender wurde die Religionszugehörigkeit einzelner Volksgruppen instrumentalisiert.

Seit dem kurdischen Newroz-Fest am 21. März 2011 überzieht die türkische Regierung kurdische Politiker, Menschenrechtler, Journalisten, Geistliche, Lehrer und andere mit einer Verhaftungswelle. Mitte April versuchte die staatliche Wahlkommission, zwölf prominente Bewerber, darunter die Kurden Leyla Zana, Hatip Dicle (befindet sich in Haft) und Serafetin Elçi, unter Hinweis auf frühere Haftstrafen von einer Kandidatur auszuschließen. Friedliche Proteste wurden von Sicherheitskräften erstickt. Mehr als 2500 Kurden wurden festgenommen. 596 Kurden wurden bereits in der zweiten Hälfte 2010 aus politischen Gründen angeklagt. Ihnen drohen insgesamt 1219 Jahre Gefängnis.

Die überwiegende Mehrheit der mehr als 14 Millionen Kurden, aber auch die Assyrer-Aramäer, Armenier, Lasen, Aleviten und Yeziden haben ihren Glauben an den Reformwillen Erdogans verloren. Sie wollen eine neue vielfältige Türkei mit einer neuen Verfassung, die die sprachlichen, kulturellen und politischen Rechte aller Volksgruppen und Religionsgemeinschaften garantiert.

Für Nachfragen ist Tilman Zülch erreichbar unter Tel. 0151 153 09 888.


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