Die Geheimorganisation mit dem beziehungsreichen Namen Ergenekon* hatte bereits zwei Millionen Lira (1,5 Mio. EUR) auf einem Sammelkonto an „Spenden“ gesammelt, um Orhan Pamuk als Nummer Eins auf ihrer Hitliste bei einem seiner Istanbulbesuche ermorden zu lassen. Zu diesem Zweck traf sich auf Befehl des pensionierten Brigadegenerals Veli Küçuk ein höherer, ebenfalls pensionierter Offizier mit dem Auftragsmörder Selim A. in einem Armee-Café. Alles sollte nach dem Schema  der Morde an dem katholischen Geistlichen Andrea Santoro (Trabzon, November 2006) und Hrant Dink passieren: Pensionäre mit hochkarätiger Militärlaufbahn beauftragen und instruieren Jugendliche, um sie auf Minderheitenangehörige bzw. Andersdenkende zu hetzen. Außer dem ersten türkischen Literaturnobelpreisträger standen drei Politiker der kurdischen DTB-Partei sowie ein der AKP nahe stehender Journalist auf der Auftragsliste. Der Jugendliche Selim A. war anspruchsvoll: Er verlangte die Einlage des Sammelkontos der Ergenekon sowie eine Glock-Pistole, mit der sich auch Metall-Detektoren überwinden lassen.

Auch der Mord an Hrant Dink war dem Gendarmeriegeheimdienst JITEM schon ein Jahr vor der Ausführung in Einzelheiten bekannt, ohne dass die Sicherheitsbehörden eingriffen. Küçük war schließlich der Gründer der Geheimdienstabteilung der Gendarmerie. Diesmal allerdings ließ man den Mord an dem Prominenten Pamuk nicht geschehen, sondern setzte bei einer landesweiten Razzia vorsichtshalber die Spitze der Ergenekon vor der Tat fest: Veli Küçük und auch der Anwalt Kemal Kerincsiz, der der ultranationalistischen Juristenvereinigung der Türkei vorsitzt, sind die prominentesten der 60 Festgenommenen. Ihnen droht möglicherweise eine Anklage wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung.

Über die Motive und Hintergründe der Razzia rätseln nicht nur die türkischen Medien. Viele Kommentatoren und Kolumnisten wagen kaum zu hoffen, dass dies nun der endgültige Durchbruch zum Rechtsstaat ist. Manche sehen sich an historische Beispiele der „kinderfressenden“ türkischen Nationalrevolution erinnert, etwa an die Liquidierung führender Mörder an christlichen Minderheiten durch die Spitze der Ittihat ve Terakki noch während des Ersten Weltkrieges oder an die Ausschaltung bzw. Festnahme und Hinrichtung von Ittihatisten durch die Regierung Mustafa Kemals in den Jahren 1923 und 1926. Stets ging es bei solchen Aktionen wesentlich um das Ausschalten von Mitwissern und Auftragnehmern von Staatsverbrechern.

Es bleibt abzuwarten, ob man jetzt der Ergenekon als bequemem Sündenbock alle bisher juristisch unbefriedigend bewältigten Gewaltverbrechen mit politischem Hintergrund anlasten wird bzw. kann. Noch wichtiger ist der Umstand, dass Ergenekon nicht die einzige mörderisch gesinnte Organisation des Tiefenstaates bildet. Diesem Monster wachsen höchstwahrscheinlich Köpfe nach.

Erläuterung:

*Ergenekon: Eine türkische Sage, wonach einst die Chinesen die Türken in eine Falle gelockt und sämtlich ermordet haben. Nur einer überlebte schwer verletzt. Eine Grau-Wölfin mit dem Namen Asena fand ihn und brachte ihn in das Tal Ergenekon. Der Überlebende zeugte mit der Wölfin Kinder, deren Nachkommen die jetzigen Türken sind. Später haben die Kinder der Wölfin und des letzten Türken einen Berg aus Erz zum Schmelzen gebracht und sind auf diese Weise aus dem Tal der Wölfe frei gekommen. Deswegen schlagen an jedem 21. März die türkischen Politiker auf ein Stück Erz.

Zum Weiterlesen: