Seit dem 16. Oktober läuft Fatih Akins Spielfilm „The Cut“ in deutschen Kinos. Aus diesem Anlass möchten wir unsere Empfehlung für diesen Beitrag begründen, der in den Medien bisher recht unterschiedlich gewürdigt wurde.

Genozid als Spielfilmhandlung gehört zu den größten Herausforderungen an einen Filmregisseur und Drehbuchautor. Im Fall Fatih Akins wurde die Herausforderung noch durch den Umstand erhöht, dass die Regierung seines Herkunftslandes, der Türkei, bis heute nicht den osmanischen Genozid an den Armeniern als historische Tatsache anerkannt hat und der Strafrechtsparagraph 301 zur Ahndung von „Beleidungen“ am „Türkentum“ 2008 zwar novelliert, aber nicht aufgehoben wurde. Besondere Sicherheitsvorkehrungen währen der Dreharbeiten schienen deshalb erforderlich. So ließ Akin offiziell verlautbaren, er drehe einen „Western“.

Regisseure, die Geschichte verfilmen, und vor allem die Geschichte eines Massen- und Staatsverbrechens, brechen die Geschichte auf Einzel- oder Familienschicksale herunter. Das haben Akin und seine Vorgänger, der kanadisch-armenische Regisseur Atom Egoyan sowie die Italiener Vittorio und Paolo Taviani, ebenfalls getan. Aber zu Akins Erfolg trägt auch bei, dass er einige der Irrtümer seine Vorgänger vermied. In Egoyans „Ararat“ war dies eine durch zahlreiche Nebenhandlungen und Zeitensprünge erheblich verwirrte Erzählweise; bei den Tavianis störte vor allem der sentimentale und unglaubwürdige Liebesplot zwischen einer armenischen Deportierten und einem türkischen Offizier in der Bewachungsmannschaft. Gut gemeint ist nicht automatisch gut gemacht. Akin vertraut dagegen auf episches Erzählen und das konventionelle Stationenkino, auf der Grundlage einer gründlichen Recherche der typischen Abläufe des Genozids an den Armeniern.

Sein Film beginnt mit der Eröffnungsformel armenischer Volksmärchen, die das Einzelschicksal ins Allgemeine überhöht: „Es war einmal, es war kein Mal.“ Sein Protagonist, der Schmied Nazaret aus der südostanatolischen Provinzstadt Mardin, wird mit seinem Schwager 1915 in eine Einheit armenischer Zwangsarbeiter gepresst. Dort werden sie Zeugen der Deportationen der übrigen armenischen Bevölkerung und der an ihnen verübten Verbrechen, darunter Vergewaltigungen. 1916 taucht ein Abgesandter des Provinzgouverneurs von Diyarbekir auf, der den Zwangsarbeitern Amnestie und Freiheit im Fall ihres Übertritts zum Islam verspricht. Nur zwei aus der Gruppe entscheiden sich dafür und werden von den übrigen als Glaubensabtrünnige beschimpft. Am kommenden Tag werden die Verweigerer des Glaubenswechsels wie Hammel abgeschlachtet, wobei den für die Tötung Nazareths Vorgesehenen Skrupel plagen: Er ist ein Dieb aus Not, aber kein Halsabschneider. Statt wie befohlen Nazareth die Kehle zu durchtrennen, bringt er ihm einen tiefen, aber nicht lebensbedrohenden Schnitt bei und schleicht sich später unbemerkt zu seinem noch lebenden Opfer, um es zu retten. Beide schließen sich einer Gruppe wegelagernder Deserteure an, auch dies eine zeittypische Erscheinung.

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THE CUT | Trailer deutsch german [HD]

Doch Nazareth hält es nicht lange bei den Deserteuren. Als er hört, dass seine Familie nach Ras-al Ayn deportiert wurde, macht er sich auf die Suche nach seinen Angehörigen. In einem Zeltlager elender, verhungernder Deportierter findet er aber nur noch seine völlig entkräftete, verhungernde Schwägerin vor; von ihr erfährt er, dass seine beiden Zwillingstöchter Arsine und Lussine bei Beduinen überlebt haben. Nazareth erlöst seine Schwägerin auf deren inständige Bitte, indem er ihr das Genick bricht, erlebt eine tiefe Glaubenskrise, doch er setzt seine Suche fort: bei Beduinen, in Aleppo, in den christlichen Waisenheimen des Libanon. Auch hier erweist sich Akin als detailgetreuer Chronist, denn zur Praxis der völlig überfüllten Heime gehörte es, ihre „Schützlinge“ so früh wie möglich zu verheirateten, oft auch nach Übersee in die armenische Diaspora. Das Schicksal dieser per Katalog vermittelten Bräute schildert unter anderem das Theaterstück „Beast on the Moon“ (1995) von Richard Kalinoski.

Als Nazareth erfährt, dass eine armenische Heimlehrerin für seine Töchter „gute Ehemänner“ in Kuba gefunden haben soll, heuert er als Hilfsmatrose auf einem Schiff an – nur um in Kuba zu erfahren, dass seine Töchter nicht verheiratet wurden, weil Lussine, die während der Deportation ihr Bein gebrochen hat, irreversibel hinkt – in den Augen des für sie vorgesehenen, erheblich älteren Ehekandidaten ein zu erheblicher Makel. Weil auch Arsinee ihre zurückgewiesene Schwester nicht allein lassen will, ziehen die beiden Mädchen nach Minneapolis weiter. Ihr Vater folgt ihnen, nachdem er den Beinahe-Schwieger“sohn“ ausgeraubt hat und so das Geld für die Überfahrt auf einem kubanischen Schiff zusammenbringt, das illegale Einwanderer und Rum nach Florida schmuggelt. Dort sucht er zunächst die Fabrik des Juden Edelman auf, wo seine Töchter zuletzt gearbeitet haben. Aber es ergeben sich keine weiteren Spuren. Dass Nazareth am Ende seiner Odyssee mit wenigstens einer Tochter, der hinkenden Lussine, am Grab des anderen Mädchens wiedervereint wird, gleicht einem Wunder und ist für Nazareth ein so überwältigendes Ereignis, dass er seine Sprache wiedergewinnt. Denn der Schnitt, der ihm während des Massakers beigebracht wurde, hat ihn für Jahre verstummen lassen.

Akin erzählt Nazareths Geschichte mit Hilfe eindringlicher Landschaftsaufnahmen. Die sandfarbenen Erdtöne der lebensfeindlichen Wüstenlandschaft im Deportationsgebiet prägen sich ebenso ein, wie jene Nacht unter dem unendlichen mesopotamischen Sternenhimmel, in dem Nazareth seine sterbende Schwägerin in den Armen hält. Der Zug der Kraniche kündigt 1915 das bevorstehende Unheil von Festnahme, Zwangsarbeit und Deportation an und gegen Schluss des Films die Wiedervereinigung von Vater und Tochter in einer amerikanischen Kleinstadt.

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THE CUT | Filmclip

Manche Rezensenten haben Akin dafür kritisiert, dass er Nazareths Odyssee durch den Nahen Osten und die Neue Welt ausführlich geschildert hat. Tatsächlich aber behandelt er den Genozid und das anschließende Schicksal der Überlebenden als untrennbare Einheit: die verzweifelte, oft lebenslange Suche nach den Angehörigen, das nicht endende Leiden unter Traumata, die Nazareth in Alpträumen, aber auch in Lebensgefahr als Visionen seiner geliebten Toten heimsuchen. Ebenso wie die Landschaftsbilder sind dies poetische, eindrückliche Stilmittel.

Die vielleicht wichtigste Botschaft des Films liegt aber in der Aussage, dass Menschen auch in den extremsten Situationen eine Wahl zwischen Gut und Böse besitzen und dass daher die meisten von uns weder grundschlecht, noch reine Engel sind. Diese ebenso nüchterne, wie versöhnliche Sicht auf eine nun fast 100 Jahre zurückliegende Episode von Genozid veranschaulicht Akin immer wieder und entgeht somit einer simplifizierenden Unterteilung seiner Protagonisten in Opfer und Täter. Denn um zu überleben, wird Nazareth seinerseits selbst zum Täter, indem er zusieht, wie seine Briganten-Kameraden einen reichen Armenier aus Mardin aus der Kutsche zerren, mit der er und seine Familie in die Verbannung reisen. Dass das Transportmittel bei der Deportation 1915 eine entscheidende Rolle spielte und jene, die zu Fuß gen Süden ziehen mussten, größten Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt waren, lässt sich schon bei dem Überlebenden Jerwand Otjan („Verfluchte Jahre“) nachlesen: Wer das Geld zur Bestechung oder Beziehungen besaß, reiste per Bagdadbahn oder zumindest in der Kutsche.

Als nach der osmanischen Kriegskapitulation osmanisches Militär und Zivilisten aus dem nun von Briten und Franzosen unter Mandat genommenen Syrien abziehen müssen, schließt sich Nazareth zunächst der wütenden Menge an, die die abziehenden Osmanen beschimpfen und mit Steinen bewerfen. Aber seine schon zum Steinwurf erhobene Hand sinkt, als er in die Augen der Mutter eines blutenden Knaben blickt und begreift, dass die erlittene Gewalt niemals dazu berechtigt, selbst Gewalt gegen wehrlose Opfer auszuüben. Diese Erkenntnis macht Akins Protagonisten keineswegs zum dauerhaften Pazifisten: Denn um seine Töchter wiederzufinden, raubt er in Kuba einen Landsmann aus und verteidigt sich in Florida erfolgreich gegen schießwütige Amerikaner. In North Dakota rettet er unter Einsatz des eigenen Lebens eine Indianerin vor der Vergewaltigung durch rassistische Bahnarbeiter, nachdem er in Mesopotamien als Zwangsarbeiter der Vergewaltigung von Frauen ohnmächtig zusehen musste. Zugleich überlebt Nazareth nur, weil er auf seiner Odyssee immer wieder Menschen begegnet, die zu Mitgefühl und uneigennütziger Hilfsbereitschaft fähig sind. Besonders ausgeprägt sind diese Eigenschaften bei dem Aleppiner Seifensieder Omar Nasreddin, der Nazareth nach Aleppo schmuggelt und bei sich wohnen und arbeiten lässt.

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THE CUT | Filmclip

Dieser idealtypisch gütige Araber trägt vermutlich nicht zufällig den Namen des vom Balkan bis Iran bekannten Mollah Nasreddin (im Türkischen Nasreddin Hoca), eines muslimischen Gesinnungsgenossen des tschechischen Schwejk, der der Gewalt der jeweils Mächtigen – im Fall Nasareddin ist es der Sultan bzw. Tamerlan – durch Mutterwitz widersteht. Fatih Akins Familie stammt aus Trabzon, wo Nasreddin Hoca sowohl Muslimen, als auch pontosgriechischen Christen vertraut ist, die die Erzählungen über diesen Schelm bis in die weltweite Diaspora getragen haben. Fatih Akin stammt mütterlicherseits von Griechen ab, freilich nicht aus dem Pontos, sondern aus Kreta. Ganz sicher haben diese biographischen Zusammenhänge, wie auch die schon erfolgreiche Verfilmung der Erzählung „Tamama“ des Pontosgriechen Giorgos Andreadis durch die aus Kars stammende Regisseurin Yeşim Ustaoğlu („Bulutlari beklerken“ – „Waiting for the Clouds“, 2004) den Blick des gemeinhin als „deutsch-türkisch“ apostrophierten Regisseurs geweitet. Bleibt zu hoffen, dass sein wichtiger Beitrag für 2015 von der Filmkritik in Deutschland, aber auch in Armenien gewürdigt wird.

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Fatih Akin THE CUT Interview Venedig Film Festival 2014