Zu den Parlamentswahlen in der Türkei
Pressemitteilung
Berlin. – Die gestrigen Parlamentswahlen in der Türkei bestätigen die dort ablaufenden widersprüchlichen Prozesse. Die islamisch-konservative, vor allem von der anatolischen Mittelschicht unterstützte bisherige Regierungspartei AKP konnte zwar wie erwartet Stimmen dazu gewinnen, erreichte aber mit über 46% Prozent aller abgegebenen Stimmen nur 340 der insgesamt 551 Abgeordnetensitze. Ohne eine Zwei-Drittel-Mehrheit von 368 Stimmen bzw. Sitzen in der Großen Nationalversammlung – also Zwei-Drittel der Sitze + 1 – ist sie somit auch weiterhin nicht in der Lage, Verfassungsänderungen sowie die Wahl des Staatspräsidenten allein durchzusetzen und einen deutlichen Reformkurs zu fahren, wie es von ihr in der Europäischen Union erwartet wird. Das Defizit an Stimmen bzw. Sitzen lässt sich auch nicht mit jenen 23 kurdischen oder den Kurden nahe stehenden Abgeordneten ausgleichen, die über die Unabhängige Liste in die Große Nationalversammlung einziehen konnten.
Im nationalistisch-kemalistischen Lager errangen die Republikanische Volkspartei (CHP) an die 21 Prozent der Stimmen (112 Sitze) und die rechtsextreme Partei des Nationalen Weges (MHP) mit 14 Prozent der Stimmen 71 Sitze. Aus der MHP und den ihr nahe stehenden „Idealistenvereinen“ kamen in den letzten zwei Jahren immer wieder religiös und rassistisch motivierte Gewalttäter, die insbesondere die christliche Minderheit (0,14 Prozent der Gesamtbevölkerung) terrorisieren. Aus Furcht vor weiteren Morden waren während der Wahlkampfzeit evangelische Christen türkischer Staatszugehörigkeit ins Ausland geflüchtet.
Über die Liste der Unabhängigen kann auch der Vertreter der nationalistisch-religiösen „Partei der Großen Einheit“ (BBP –Birlik Partisi) für Sivas, Mühsin Yazicioğlu, ins Parlament einziehen und fortan Immunität genießen, obwohl er in sieben Mordfälle verwickelt ist, einschließlich des Mordes an dem armenischen Zeitungsverleger und Menschenrechtler Hrant Dink.
Von den etwa 15 Millionen kurdischen Bürgern der Türkei blieben jene vom Urnengang ausgeschlossen, über deren Heimatbezirke der Ausnahmezustand verhängt wurde wie in den mehrheitlich kurdischen Provinzen Sirnak, Siirt und Hakkari. Auch die im Ausland lebenden Staatsbürger der Türkei besaßen keine Möglichkeit der Stimmabgabe. Um die Zehn-Prozent-Hürde und zahlreiche andere Hindernisse zu umgehen, waren die kurdische DTP und die demokratische Linke in der Türkei gezwungen, als Block der unabhängigen Kandidaten –„Kandidaten der Tausend Hoffnungen“ – in die Wahl zu gehen. Die Aufstellung einer gemeinsamen Liste fiel aber infolge Konkurrenzverhaltens und mangelnder Flexibilität schwer. Zum Beispiel kamen in Istanbul der renommierte und auch von armenischen Wählern bevorzugte Oppositionelle Prof. Baskin Oran ebenso wenig durch wie sein Gegenspieler Doğan Erb, der Rechtsanwalt Öcalans. Die Opposition hoffte ursprünglich, bis zu 36 Abgeordneten ins Parlament zu schicken, war jedoch nur mit 23 Kandidaten erfolgreich.
Die Arbeitsgruppe Anerkennung nimmt diese Entwicklung mit Besorgnis zur Kenntnis und bedauert vor allem, dass sich der Reformstau angesichts dieser Stimmverteilung zu verfestigen droht.