WETTSTREIT DER PRIORITÄTEN
AGA-PRESSEERKLÄRUNG ZUR ENTSCHEIDUNG DER FRANZÖSISCHEN NATIONALVERSAMMLUNG VOM 18. MAI 2006

Berlin, den 18. Mai 2006. – Der französische Gesetzgeber hat heute beschlossen, einen von den oppositionellen Sozialisten eingebrachten Gesetzesentwurf nicht zu erörtern. Der Entwurf sah eine wesentliche Erweiterung und Verschärfung der Pönalisierung von Genozidleugnung vor, die bisher in Frankreich mit den vorhandenen Mitteln des Strafrechts nur eingeschränkt bekämpft werden konnte. Zu der Verschiebung ad infinitum nimmt die Arbeitsgruppe Anerkennung g. e.V. wie folgt Stellung:

Mit ihrer Entscheidung versuchten die französischen Gesetzgeber eine weniger schmerzhafte und demütigende Alternative zu der sonst drohenden Niederlage der Gesetzesvorlage zu finden. Die über 400.000 Menschen zählende armenische Gemeinschaft Frankreichs, aber auch die internationale armenische Diaspora wird das nicht zufrieden stellen können. Denn die Legislative Frankreichs hat menschenrechtlich relevante Anliegen dem massivem diplomatischen und wirtschaftlichen Druck des türkischen Staates und türkischer Wirtschaftsvertreter geopfert.

Wir teilen die Besorgnis der armenischen Gemeinschaft in Frankreich und erinnern in diesem Zusammenhang auf Übergriffe türkischer Nationalisten in Lyon 2005 und 2006. Wie wollen europäische Staaten der wachsenden Aggressivität von Ultranationalisten begegnen und Minderheitenangehörige bzw. Nachfahren von Genozidopfern vor der Traumatisierung durch die fortgesetzte Kränkung ihrer als Verräter geschmähten Vorfahren bewahren?

Bedenklich scheint uns aber auch die weit verbreitete Begriffs- und Werteverwirrung in intellektuellen Kreisen, die unter dem Banner der Meinungs- und Forschungsfreiheit das „Recht“ auf Genozidleugnung verteidigt. Während am 20. Februar 2006 der britische Holocaustleugner David Irving eine dreijährige Haftstrafe für die zweifache öffentliche Leugnung (1989) der Vernichtung der europäischen Juden antrat, lehnt offenbar die Mehrheit intellektueller Wortführer in Europa und der Türkei die Ausdehnung solcher Maßstäbe auf andere Beispiele von Genozidleugnung ab – ohne Alternativen für den Umgang mit Genozidleugnung einschließlich der öffentlichen Ehrung von Völkermördern benannt zu haben. Wir können eine derart selektive Empathie für Opfer von Genozidleugnung weder rechtlich, noch ethisch rechtfertigen.

Wir erinnern uns in dieser Situation an das Schicksal unseres Vorbildes Raphael Lemkin, des „Vaters“ der UN-Genozidkonvention zur Bestrafung und Verhütung von Völkermord. Lemkin hat unter dem Eindruck des Völkermordes an den Armeniern sowie der Massaker an Assyrern im Irak (1933) im selben Jahr versucht, eine internationale Konvention gegen die „Zerstörung nationaler, rassischer und religiöser Gruppen“ auf einem Treffen des Völkerbundes in Madrid anzuregen. Von der Delegation aus Nazideutschland wurde er damals ausgelacht. Es dauerte 15 weitere Jahre sowie einen weiteren Weltkrieg und Völkermord, bis Lemkins Gesetzesprojekt Erfolg erzielte. Es dauerte bis 1998, bis ein Ständiger Internationaler Gerichtshof entstand. Niemand bezweifelt heute den Sinn der UN-Genozidkonvention.

Wir sind überzeugt, dass in der Zukunft auch erkannt wird, dass Genozidleugnung als „zweite Tötung“ (Elie Wiesel) ein Verbrechen darstellt, das unter anderen mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen ist. Wie schnell diese Zukunft erreicht wird, wird nicht zuletzt von unserer Überzeugungskraft in einer Debatte in Politik und Gesellschaft abhängen, die dringend zu führen ist.

Der Vorstand der Arbeitsgruppe Anerkennung
Berlin-Köln, den 18. Mai 2006

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