In Reaktion auf die Beschlüsse des Auswärtigen Ausschusses des US-Repräsentantenhauses sowie des schwedischen Parlaments, in denen jeweils mit knapper Mehrheit von einer Stimme der Völkermord an den Armeniern als historische Tatsache anerkannt wurde, erklärte der türkische Regierungschef in einem Interview mit der BBC: „Gegenwärtig leben 170.000 Armenier in unserem Land. Nur 70.000 davon sind türkische Bürger, aber wir tolerieren die übrigen 100.000. Falls erforderlich, muss ich diesen 100.000 sagen, dass sie in ihr Land zurückkehren müssen, weil sie nicht meine Bürger sind. Ich bin nicht verpflichtet, sie in meinem Land zu behalten.“

Abgesehen von ihrer gutsherrlichen Färbung – „meine Bürger, mein Land“ – ist diese Drohung nicht neu. Die Ausweisungskeule gegenüber Migranten aus der Republik Armenien haben türkische Staatspolitiker bereits in der Vergangenheit geschwungen, so zum Beispiel nach der Verabschiedung eines Antileugnungsgesetzes durch die französische Nationalversammlung im Oktober 2006. Neu ist jedoch der breite gesellschaftliche Protest, der sich in der Türkei dagegen regte, dass ausländische Arbeitsmigranten als Geiseln der offiziellen Leugnungspolitik dienen sollen. Ein Kommentator der „Hürriyet“ (18.03.2010) forderte Erdoğan auf, sich zu entschuldigen und wies auf die krasse Übertreibung der Zahlen hin: Nicht 100.000, sondern höchstens 14.000 Bürger der Republik Armenien hielten sich als undokumentierte Migranten in der Türkei auf.

Dass die von Erdoğan genannten Zahlen völlig aus der Luft gegriffen sind und zu gefährlichen Spekulationen einladen, belegt auch eine aktuelle Studie der im Südkaukasus ansässigen Eurasia Partnership Foundation. Ihr zufolge beträgt die Zahl der undokumentierten (Im)Migranten aus Armenien sogar nur 12-13.000, 94% davon Frauen und 95% in Istanbul – meist im armen Ortsteil Kumkapi – ansässig. Obwohl die Betroffenen in Interviews äußerten, dass sie sich von ihren türkischen Mitbürgern akzeptiert fühlen, leiden sie und vor allem ihre Kinder unter erheblichen Härten. Weil die Türkei bisher die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Armenien stets abgelehnt hat, bleiben die in der Türkei geborenen Kinder ohne Geburtsurkunde und amtliche Papiere. Sie werden in die Staatenlosigkeit hineingeboren und dürfen auch nicht die armenischen Schulen in Istanbul besuchen.

Armenischen Frauen und ihren staatenlosen Kindern die Deportation anzudrohen ist – 95 Jahre nach den als „Ausweisung“ maskierten Todesmärschen – eine mehr als makabre Entgleisung des Regierungschefs. Burak Bedil kommentiert diesen Rassismus in „Hürriyet“ (18.03.2010): „Falls Ihr Taxifahrer oder der Ladenbesitzer an der Ecke solche wahnsinnigen Vorschläge machen, würden Sie ihn anlächeln und ihm sagen, dass es nicht so nett ist, wenn wir ‚Exodus 2’ im 21. Jahrhundert veranstalten. Binnen zehn Minuten würden Sie dann vergessen, was Ihr Taxifahrer oder der Ladenbesitzer vorgeschlagen haben. Etwas anderes ist es aber, falls Ihr Premierminister armenischen Immigranten mit Massendeportation droht – nicht etwa, weil diese etwas Schlimmes gemacht hätten, sondern weil ausländische Gesetzgeber eine Resolution verabschiedet haben.“

Trotz aller medialen und gesellschaftlichen Proteste gegen Erdoğans Deportationsdrohung stimmt einer Umfrage zufolge die knapp die Hälfte der Respondenten – 48,8% – der Ansicht ihres Regierungschefs zu, dass „illegale“ armenische Arbeitnehmer deportiert werden sollen; nur 33,9% sprachen sich dagegen aus. Der Prozentsatz der Deportationsbefürworter, so der kritische Kommentar von B. Bedil, sei etwa so hoch wie der Stimmenanteil von Erdoğans Partei AKP bei den letzten allgemeinen Wahlen (47%).

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