Sechs türkische Bürger – Hasan Hüseyin Satır, Sabahat Özgür, Mehmet İnal Kolburan, Hüseyin Erdoğan, Serdar Orhaner and Kürşat Karacabey – haben die Initiatoren der Unterschriftensammlung „Ich entschuldige mich“ nach § 301 wegen Herabwürdigung der türkischen Nation angezeigt. Die Staatsanwaltschaft in Ankara nimmt die Anzeige anscheinend ernst und ermittelt.

Bereits im Dezember 2008 hatte Richter Hakkı Yalçınkaya vom Zweiten Strafgericht in Istanbul-Şişli Strafantrag gegen die Initiatoren der Unterschriftensammlung erstattet und ein Verfahren nach §301 sowie die Schließung der Webseite der Kampagne gefordert. Dieser Richter steht in enger Beziehung zu dem notorischen nationalistischen Anwalt Kemal Kerinçsiz, der jetzt selbst ein Verdächtiger im Ergenekon-Strafprozess ist. Auch gegen Richter Yalçınkaya laufen Ermittlungen des Justizministerium, weil er Kerinçsiz telefonisch gefragt hatte, ob er „irgendetwas tun“ könne.

Yalçınkaya war außerdem in das Strafverfahren gegen den Geschäftsführer und Chefredakteur der armenisch-türkische Zeitung “Akos”, Sargis Seropyan und Aris Nalcı, verwickelt, die wegen „Beeinflussung der Justiz“ angeklagt waren. Zuvor gehörte Yalçınkaya einer Richtergruppe an, die den ehemaligen „Akos“-Herausgeber Arat Dink und Seropyan auf Bewährung nach §301 verurteilt hatte.


Istanbul, 9.1.09 (KAP) Die türkische Justiz ermittelt gegen die Organisatoren der Internet-Initiative zur Entschuldigung bei den Nachfahren der armenischen Opfer der von der osmanischen Regierung veranlassten Ausrottungskampagne im Ersten Weltkrieg. Die Regierung wurde damals vom jungtürkischen „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (Ittihad ve Terakki) gestellt, das bei der Planung und Durchführung der „Maßnahmen“ gegen die Armenier und sonstigen kleinasiatischen Christen eng mit den deutschen und österreichischen „Verbündeten“ kooperierte. Die Oberstaatsanwaltschaft in der Hauptstadt Ankara beruft sich auf den faschistoiden Strafrechtsparagrafen 301 („Beleidigung des Türkentums“), der international und besonders von der EU heftig kritisiert wird.

Akademiker, Künstler und Intellektuelle hatten die Internet-Initiative kurz vor Jahresende gestartet. Auf ihrer Website entschuldigen sie sich in einer kurzen Erklärung dafür, dass die „Große Katastrophe“ der Armenier in der Türkei geleugnet worden sei. Bis zum Freitag hatten 26.770 Teilnehmer der Initiative ihrer Unterstützung versichert.

Der von der offiziellen Türkei in diesem Zusammenhang energisch abgelehnte Begriff „Völkermord“ taucht in dem Text der Initiative nicht auf. Führende türkische Politiker hatten die Organisatoren dennoch scharf kritisiert. Bei den generalstabsmäßig aus Konstantinopel durchgeplanten Deportationen im Ersten Weltkrieg kamen Schätzungen zufolge mindestens 1,5 Millionen Armenier ums Leben.

Ausgelöst wurden die Ermittlungen durch eine Strafanzeige von sechs Bürgern. Sie werfen Organisatoren und Unterzeichnern der Aktion vor, die offizielle türkische Haltung in der Armenierfrage als „Leugnung“ zu verunglimpfen und die türkische Nation doch des Völkermordes zu bezichtigen; das rechtfertige eine Anklage nach dem Strafrechtsparagrafen 301. Den Paragrafen benutzten in den vergangenen Jahren immer wieder Nationalisten, um Intellektuelle und Journalisten wegen Äußerungen zur Armenierfrage vor Gericht zu stellen. Inzwischen wurde das Gesetz leicht entschärft. Sollte die Staatsanwaltschaft Anklage erheben wollen, müsste das Justizministerium zustimmen.

Quelle:

„Bianet News“ (Ankara):
http://bianet.org/english/kategori/english/111862/apologizing-to-armenians-under-prosecution