Die dunkelste Seite in der Geschichte der Republik Türkei

AGA-Erklärung zum 70. Gedenkjahr an den Genozid in Dersim 1937/38

Im November 2008 gedenken die aus der historischen Region Dersim stammenden Menschen und ihre Nachfahren weltweit der Verbrechen, die im Zeitraum von März 1937 bis September 1938 in ihrer Heimat während einer Strafexpedition der türkischen Armee verübt wurden. Brutal und unterschiedslos vernichteten Militärangehörige im Bezirk Tunceli ganze Dörfer: Männer, Frauen und Kinder. Viele der unbewaffneten Frauen und Kinder starben bei einem regulären Holocaust: verbrannt in Höhlen oder Scheunen. Um die Existenzgrundlage der ohnehin schon armen Region zu zerstören, wurde das Vieh abgeschlachtet und das Eigentum vieler Dersimer beschlagnahmt. Nach amtlichen Angaben wurden an die 12.000 Menschen getötet, nach Schätzungen der Betroffenen bis zu 70.000.

Die Mitte des Monats November gilt vielen Dersimern und ihren Nachfahren als Höhepunkt des Gedenkens, denn damals wurde 1937 der greise Stammesführer Sey Rıza (türk. Sayit Rıza; 1862-1937) mit weiteren zum Tode Verurteilten nach einem Eilverfahren als Anführer des „Dersim-Aufstandes“ hingerichtet. Der britische Konsul zu Trabzon verglich in einem Bericht Ende September 1938 die Vorgänge in Dersim mit den Massakern an den Armeniern 1915/16 und kam zu dem Schluss:

“Tausende Kurden einschließlich Frauen und Kinder wurden erschlagen; andere, meist Kinder, in den Euphrat geworfen; während Tausende andere in weniger feindseligen Gebieten erst ihres Viehs und anderen Besitzes beraubt wurden, und dann in Vilayets (Provinzen) in Zentralanatolien deportiert wurden. Jetzt heißt es, dass die Kurdische Frage nicht mehr länger in der Türkei existiert.“

Sie wurde ebenso wie die Armenische oder die Griechische Frage genozidal beantwortet, mit Massakern, Deportationen, der Beraubung der Opfer und ihrer Denunziation als Staatsfeinde, zu kurierende „Abzesse“ usw. Die politisch Verantwortlichen handelten vorgeblich im Namen des Staatsschutzes und der Zivilisation. Doch als Hauptmotiv scheint in den Äußerungen der politischen Elite jener Zeit Rassendünkel und die daraus abgeleitete vermeintliche Berechtigung auch zu schwersten Verbrechen gegen die Menschheit auf: „Die Türken sind die einzigen Herren dieses Landes, seine einzigen Besitzer. Wer nicht von rein türkischer Herkunft ist, besitzt nur das eine Recht, nämlich Diener und Sklave zu sein. Mögen Freund und Feind und selbst die Berge diese Wahrheit wissen!“ Regierungschef Izmet Inönü hatte schon 1925 die Rangfolge zwischen Türken und Nicht-Türken definiert: „Wir sind offen nationalistisch. Nationalismus ist der einzige Grund, der uns zusammenhält. Außer der türkischen Mehrheit soll kein anderes [ethnisches] Element irgendeinen Einfluss besitzen. Wir werden jene, die in unserem Land leben, um jeglichen Preis türkisieren und jene zerstören, die sich gegen die Türken und das Türkentum erheben.“

Die Folge ist eine zutiefst gespaltene, unversöhnte Gesellschaft und die Unfähigkeit zum kritischen Umgang mit der nationalen Kriminalgeschichte. Eine juristische Aufarbeitung des Genozids in Dersim steht bis heute aus.

Die Provinz Tunceli ist inzwischen eine fast entvölkerte Region (2007: 84.000 Einw.), die die höchste Auswanderungsquote in der Türkei aufweist und auch nach 1938 Vertreibungsdruck ausgesetzt blieb: Unter dem Vorwand der Wiederaufforstung sollte 1987 über die Hälfte der 434 Dörfer in die Westtürkei umgesiedelt werden. 1993 bis 1995 vertrieb türkisches Militär erneut zahlreiche Einwohner Tuncelis aus ländlichen Gebieten. Gegenwärtig bedroht ein wirtschaftlich unnützes und ökologisch bedenkliches Projekt zum Bau von insgesamt acht Staudämmen am Fluss Munzur die dortige Umwelt. Infolgedessen leben mehr Dersimer in der Diaspora, darunter zahlreich in Deutschland, als in ihrer Heimat.

Wir teilen den Schmerz der Dersimer und appellieren an die türkische Regierung:

  • Richten Sie Wahrheitskommissionen ein, damit die Familien, die infolge der Deportationen in Tunceli auseinander gerissen wurden, wenigstens heute zusammen finden können!
  • Legen Sie die Namen und Lebensumstände jener Kinder offen, die von der Regierung aus dem Bezirk Tunceli verschleppt wurden!
  • Legen Sie offen, wo sich die Gräber der im November 1937 mit Sey Rıza Erhängten befinden, damit ihre Angehörigen und Nachfahren an diesen Stätten trauern können!
  • Gestatten Sie den Bau von Gedenk- und Begegnungsstätten in Tunceli! Sie stellen einen wichtigen Schritt zur Aussöhnung und Wieder-Aneignung der türkisch-kurdischen Geschichte dar.

Vorstand der Arbeitsgruppe Anerkennung