Vor fünf Jahren verabschiedete der deutsche Gesetzgeber eine Resolution, in der 101 Jahre post factum die an Armeniern und „anderen Christen“ des Osmanischen Reiches begangenen Verbrechen als Völkermord im Sinne der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen wertete. Auf den Tag genau jährt sich am 2. Juni auch zum 100. Mal der Tag, an dem 1921 der Strafprozess gegen den armenischen Attentäter und Rächer Soghomon Tehlirian stattfand. Dieses Verfahren, das überraschend mit einem Freispruch wegen der Schuldunfähigkeit des Angeklagten endete, motivierte den jüdisch-polnischen Juristen Raphael Lemkin, die bisherige Gesetzeslücke zu schließen, damit Völkermord an gruppenbezogenes Verbrechen geahndet werden konnte. Das gelang freilich erst seit 1948 dank der hauptsächlich von Lemkin entworfenen Völkermordkonvention der Vereinten Nationen.
Wir fragen anlässlich der 5. Jährung des Bundestagsbeschlusses, warum die darin enthaltenen bildungspolitischen Vorgaben an die Bundesregierung bisher nicht umgesetzt wurden. Wir werden diese Fragen dem Bundestagspräsidenten und der Kultusministerkonferenz stellen sowie sie zu einem Wahlkampfthema machen.
Medienmitteilung
Anerkennung des osmanischen Genozids durch den Deutschen Bundes-tag am 2. Juni 2020: Eine Bilanz
Im letzten Jahrzehnt osmanischer Herrschaft verübten zwei nationalistische Regime – das des Komitees für Einheit und Fortschritt (alias Jungtürken) und seit 1919 das der Kemalisten – Völkermord an insgesamt etwa drei Millionen indigener Christen im Osmanischen Reich sowie im 1914 und 1918 zeitweilig osmanisch besetzten Nordwest-Iran. Diese Verbrechen – Zwangsarbeit, Deportationen, Massaker, Kindeswegnahme – definiert die Mehrheit der Genozidforscher und Historiker heute als Völkermord entsprechend der UN-Genozidkonvention der Vereinten Nationen. Denn der Völkermorddefinition der Vereinten Nationen liegen die Weltkriegsgenozide des Osmanischen Reiches und Deutschlands begriffsprägend zugrunde. 30 nationale Gesetzgeber haben bis heute diese Rechtsauffassung der Vereinten Nationen in Resolutionen bekräftigt und den Genozid an den Armeniern verurteilt.
Die Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung (AGA) e.V. reichte im April 2000 gemeinsam mit dem Verein der Völkermordgegner e.V. eine Massenpetition im Deutschen Bundestag ein, in der sie den deutschen Gesetzgeber aufforderte, gerade mit Blick auf das deutsch-osmanische Militärbündnis im Ersten Weltkrieg und die in Deutschland lebenden türkeistämmigen Zuwanderungsgemeinschaften ebenfalls den osmanischen Genozid als historische Tatsache zu verurteilen.
Dazu brauchte der Bundestag 16 Jahre (bzw. 101 Jahre vom Beginn des Völkermords an den osmanischen Armeniern im Jahr 1915 gerechnet). Am 2. Juni 2016 verabschiedete der Bundestag eine zweite Resolution (https://www.aga-online.org/wp-content/uploads/Bundestagsresolution_1808613.pdf), nachdem er 2005 in seiner ersten den Begriff Genozid vermieden bzw. mit „Massakern und Vertreibung“ paraphrasiert hatte. Die 2016 verabschiedete Resolution enthält eine Reihe von wichtigen bildungs- und erinnerungspolitischen Forderungen an die Bundesregierung. Der deutsche Gesetzgeber stellte dazu in dieser Resolution fest:
„Heute kommt schulischer, universitärer und politischer Bildung in Deutschland die Aufgabe zu, die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert in den Lehrplänen und -materialien aufzugreifen und nachfolgenden Generationen zu vermitteln. Dabei kommt insbesondere den Bundesländern eine wichtige Rolle zu.“
Die Arbeitsgruppe Anerkennung führte im November 2017 einen internationalen Workshop durch, in dem sie nach der komparativen Unterrichtung von Genozidbeispielen an deutschen Schulen fragte. Dabei erscheinen uns besonders jene Völkermorde relevant, für die Deutschland die alleinige oder teilweise Verantwortung trägt: also der koloniale Genozid deutscher Truppen an Herero, Nama und San in der damaligen Kolonie „Deutsch-Südwest“ (Namibia), die Vernichtung der Juden im deutsch-besetzten Europa sowie die Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich, bei der die kaiserdeutsche Regierung Mitwisserin und Nutznießerin war.
Doch von 16 Bundesländern sehen die Lehrpläne nur in einem Drittel eine optionale komparative Unterrichtung des Themas Völkermord vor. Das bedeutet, dass wahlweise außer der Schoah auch andere Beispiele, etwa der osmanische Genozid, unterrichtet werden können. Da allerdings solcher Unterricht nur optional und nicht verbindlich erfolgt, wird der osmanische Genozid an anderthalb Millionen Armeniern, über einer Million griechisch-orthodoxen Christen sowie mindestens einer halben Million Aramäern (Assyrern, Chaldäern) unterschiedlicher Denominationen kaum unterrichtet. Die Ursachen vermutete der ehemalige Oberstudiendirektor und Gymnasiallehrer Dr. Martin Stupperich in einem Aufsatz vom April 2016 im Einfluss der „offiziellen türkischen Staatsdoktrin, der zufolge es niemals einen Völkermord an den Armeniern gegeben habe“ auf die Eltern türkeistämmiger SchülerInnen. Entsprechend groß sei der Widerstand der betroffenen Eltern und SchülerInnen (Stupperich, Martin: Der Völkermord an den Armeniern im Schulunterricht. 26. April 2016, Bundeszentrale für Politische Bildung, https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/genozid-an-den-armeniern/218116/der-voelkermord-im-unterricht). Ein weiteres Hindernis sah M. Stupperich in der unzureichenden Kenntnis der Lehrkräfte über den osmanischen Genozid.
Nur in zwei Bundesländern, in Brandenburg und Sachsen-Anhalt, wurden Handreichungen für entsprechenden Schulunterricht erarbeitet bzw. publiziert, um dieser Unkenntnis der Lehrkräfte abzuhelfen. Die brandenburgische Handreichung soll nach unseren Informationen allerdings nie die Schulen erreicht haben und ist inzwischen vergriffen. Sie ließe sich aber nachdrucken und in den Unterricht einbringen.
Bedauerlicherweise erklärte Regierungssprecher Seibert nur drei Monate nach Verabschiedung der Bundestagsresolution 2016 – offenbar zur Beruhigung der Türkei – , dass diese Resolution nicht-legislativ, also mithin unverbindlich sei. Solche Äußerungen erscheinen uns vor dem Hintergrund erinnerungs-, wie auch integrationspolitischer Aufgabenstellungen verantwortungslos. Die fortgesetzte deutsche Rücksichtnahme auf türkische Empfindlichkeiten und Sichtweisen befremdet umso mehr angesichts der offenkundige Unterstützung, die die Republik Türkei ihrem Nachbarn Aserbaidschan bei dessen völkerrechtswidrigem Angriff auf armenisches Siedlungsgebiet im Herbst 2020 leistete.
Äußerst befremdlich war auch die Aussage des türkischen Präsidenten Erdoğan auf der triumphalistischen Siegesfeier in Baku, wo er mit Blick auf eine frühere Kaukasusinvasion des osmanischen Kriegsministers Enver ausführte, die Türkei und Aserbaidschan würden vollenden, was Enver begonnen habe. Da Enver dem jungtürkischen Triumvirat angehörte, das den Genozid an den osmanischen Armeniern zu verantworten hat, kann diese Äußerung auch als Genoziddrohung gegen die heutige Republik Armenien verstanden werden. Eine Auseinandersetzung zumindest der in Deutschland lebenden türkeistämmigen Gemeinschaften mit der spätosmanischen und türkisch-republikanischen Geschichte erscheint uns daher dringender denn je geboten.
Die Arbeitsgruppe Anerkennung wird sich demnächst gemeinsam mit anderen Vereinen und Verbänden an den Bundestagspräsidenten sowie an die Kultusministerkonferenz wenden, um an die Umsetzung der in der Resolution vom 2. Juni 2016 gestellten Aufgaben zu erinnern.
Berlin, den 01. Juni 2021
Vorstand der Arbeitsgruppe Anerkennung
Kontakt: Dr. Tessa Hofmann, Tel.: 030/89516409