Verbände und Vereine appellieren in einem Offenen Brief an die Bundeskanzlerin: DURCHBRECHEN SIE DAS SCHWEIGEN! 100 JAHRE SIND GENUG! Der Offene Brief wurde heute während einer erinnerungspolitischen Mahnwache vor dem Bundeskanzleramt der deutschen Regierungschefin übergeben. Zuvor hatten die Teilnehmer_innen eine Mahnwache vor der Türkischen Botschaft durchgeführt, mit der sie gegen die anhaltende Leugnung des Genozids protestierten. Während der Mahnwache wurden die Namen von einhundert armenischen Intellektuellen wachgerufen, die ab dem 24. April 1915 festgenommen und ermordet worden waren.


OFFENER BRIEF

DEUTSCHLAND VERSAGT MENSCHENRECHTLICH:
EINHUNDERT JAHRE SCHWEIGEN ZU GENOZID

An die
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
11044 Berlin

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

weltweit wird in diesen Wochen an den Genozid von anderthalb Millionen Armeniern, etwa einer halben Million aramäischsprachiger Christen und griechisch-orthodoxer Mitopfer erinnert, für den das nationalistische Kriegsregime der osmanisch-türkischen Partei Ittihat ve Terakki Cemiyeti (alias Jungtürken) die Verantwortung trägt. Dieses Staatsverbrechen wurde begriffsprägend, denn es liegt der Genozid-Definition der Vereinten Nationen empirisch zugrunde.

Nur deutsche Regierungschefs schweigen dazu. Ihr entfernter Amtsvorgänger, der Reichskanzler Bethmann-Hollweg, lehnte es Anfang Dezember 1915 ab, sich von der Vernichtungspolitik der Jungtürken öffentlich zu distanzieren und begründete dies mit dem für Deutschland wichtigen Militärbündnis: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

Seit 2010 beantwortet das bundesdeutsche Außenministerium Kleine Anfragen der Opposition nach der Haltung der Bundesregierung zum Genozid an den Armeniern ausweichend. Statt einer juristisch qualifizierten Antwort gab das Ministerium im Auftrag der Bundesregierung vor, dass weiterhin Forschungsbedarf bestünde bzw. verwies auf einen angeblichen direkten Dialog zwischen den Staaten Armenien und Türkei. Dabei wurde unterschlagen, dass der Genozid an den Armeniern nach der Schoah zu den wissenschaftlich am umfassendsten aufgearbeiteten Beispielen von Genozid im 20. Jahrhundert zählt, dass daran türkische Wissenschaftler_innen zunehmend Anteil besitzen und dass sich Wissenschaftler_innen türkischer, armenischer und dritter Staatszugehörigkeiten seit Jahrzehnten auf internationalen Konferenzen austauschen.

Vor allem aber werden fortgesetzt die Ergebnisse des Berichts unterschlagen, den das International Center for Transitional Justice (ICTJ) bereits 2004 im Auftrag der Turkish Armenian Reconciliation Commission erstellt hatte. Die Experten des ICTJ waren zu dem Ergebnis gelangt, dass die „Ereignisse von 1915“ der Genozid-Definition der Vereinten Nationen entsprächen.2 Dem Deutschen Bundestag hatte die Existenz der TARC (2001-2004) zwar als Vorwand gedient, um 2001 eine Anerkennungs-Petition von in Deutschland ansässigen armenischen und türkischen Organisationen als angeblich nicht zielführend zurückzuweisen3, aber die Forschungsergebnisse des ICTJ werden bis heute von der Bundesregierung und dem deutschen Gesetzgeber geflissentlich ignoriert.

Wir fragen: Warum?
Angesichts der historischen und aktuellen Tatsachen ist das Verhalten der Bundesregierung nicht nur beschämend, sondern setzt mit Blick auf die Prävention von Genozid gefährliche, weil falsche Signale. Deutschland war im Ersten Weltkrieg nicht nur umfassend informierter Mitwisser der Verbrechen, sondern profitierte von armenischer Zwangsarbeit sowie Geldeinlagen bei deutschen Kreditinstituten. Einzelne Deutsche mit hochrangiger Befehlsgewalt in den osmanischen Streitkräften erteilten Deportationsbefehle und beteiligten sich maßgeblich an der Niederschlagung von Selbstverteidigungsversuchen. Nach Kriegsende wurde landesflüchtigen, in der eigenen Heimat von Militärgerichten zum Tode verurteilten Hauptverantwortlichen in der deutschen Hauptstadt mit Wissen des deutschen Auswärtigen Amtes Unterschlupf gewährt. Zwei Auslieferungsbegehren des osmanischen Botschafters wurden 1919 vom Auswärtigen Amt der Weimarer Republik unter Berufung auf die deutsche Bündnistreue abgelehnt.

Für die heutigen Zuwanderungsgemeinschaften in Deutschland ist es unverständlich, warum sich bundesdeutsche Entscheidungsträger vor einer proaktiven Auseinandersetzung mit belasteter Geschichte wegducken? Warum werden erinnerungs- und bildungspolitische Chancen zur umfassenden Information hier lebender türkeistämmiger Gemeinschaften nicht genutzt sowie finanziell und moralisch gefördert? Warum erlauben umgekehrt deutsche Behörden die Fortsetzung eines abstoßenden Kultes um die Völkermörder als „türkische Patrioten“?

Warum war die akademische Geschichtsforschung in Deutschland in einhundert Jahren nicht zur Aufarbeitung des deutschen Schuldanteils in der Lage? Warum konnten umgekehrt notorisch bekannte Leugner des Genozids an deutschen Universitäten und Kultureinrichtungen öffentlich den Genozid leugnen? Warum wird, mit Ausnahme des Bundeslands Brandenburg, in deutschen Schulgeschichtsbüchern über den Genozid im Osmanischen Reich geschwiegen?

Damit versagt Deutschland nicht nur im Einzelfall des osmanischen Genozids, sondern im Bereich der Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Fällen des ultimaten Verbrechens.

Wir appellieren an Sie: DURCHBRECHEN SIE DAS SCHWEIGEN! 100 JAHRE SIND GENUG!

Unterzeichner:

Armenische Gemeinde zu Berlin e.V.
Armenischen Kirchen- und Kulturgemeinde Berlin e.V.
Armenischer Jugendverband Kilikia e. V.
Armenische Gemeinde zu Hamburg von 1965 e. V.
Verband der Vereine der Griechen aus Pontos in Europa e.V. (OSEPE)
Verein der Völkermordgegner e.V.
KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V.
AKEBİ e.V. (Irkçılığa, Milliyetçiliğe, Ayrımcılığa Karşı Aktivist Eylem Birliği – AktivistInnenvereinigung gegen Rassismus, Nationalismus und Diskriminierung)

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