In Memoriam Hrant Dink:

MINDERHEITEN SCHÜTZEN
MENSCHENRECHTE VERTEIDIGEN!

Gedenkveranstaltung der
Arbeitsgruppe Anerkennung –
Gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V.

und der Armenischen Kirchen und Kulturgemeinde Berlin e.V.

Berlin, Rathaus Schöneberg, 19. Januar 2008

Sona Eypper (Armenischer Kirchen- und Kulturverein Berlin):
Auf Tauben schießt man nicht: Zur Eröffnung
Auf Tauben schießt man nicht“, meinte Hrant Dink in seiner letzten Kolumne. Und doch wurde auf ihn geschossen.

Meine verehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie im Namen der Arbeitsgruppe Anerkennung und der Armenischen Kirchen- und Kulturgemeinde Berlin zu unserer Gedenkveranstaltung „In memoriam Hrant Dink: Minderheiten schützen – Menschenrechte verteidigen“.

Ich bitte Sie, sich zu einer Minute des stillen Gedenkens an Hrant Dink und an die drei evangelischen Opfer vom 18. April 2007 in Malatya zu erheben.

Vor genau einem Jahr wurde in Istanbul der armenische Journalist, Zeitungsverleger und Menschenrechtler Hrant Dink von einem 19-järigen gezielt und hinterrücks ermordet. Für uns Armenier war dieses Verbrechen eine Fortführung des im 20. Jahrhundert verübten Völkermordes. Damals waren es 1,5 Millionen, und im 21. Jahrhundert geht das Morden weiter. Wir zählen: „anderthalb Millionen plus eins“. Die Frage nach dem „Warum“ dieses Verbrechens ist umso schwerer zu beantworten, da das Opfer ein Armenier war, der aber die türkische Demokratiebewegung sehr unterstützt hatte. Er hat das Wohlergehen der armenischen Minderheit innerhalb eines türkischen Staates gesehen. Seine Verurteilung im Oktober 2005 nach dem berüchtigten Paragraphen 301 war für ihn unfassbar, denn er solidarisierte sich stets mit dem fortschrittlichen türkischen Volk und konnte sich nicht vorstellen, außerhalb der Türkei zu leben. Er war in erster Linie ein Armenier, aber zugleich auch ein Bürger des türkischen Staates. Er legte auf diese Gemeinsamkeit großen Wert.

Ich betrachte Hrant Dink sozusagen als ein Brücke, die versuchte, durch den Völkermord Zerrissenes einander näher zu bringen. Der türkische Staat jedoch verstand Dinks Sprache nicht. Oder um es deutlicher zu sagen, er wollte diese Sprache nicht verstehen. Das Ausmaß dieses Unverständnisses zeigt sich auch darin, dass Hrant Dink einer von fünf Christen ist, die seit 2006 in der Türkei nationalistisch und religiös motivierten Morden zum Opfer gefallen sind. Die wachsende Gewalt gegen Christen und die Unwilligkeit des Staates, Gewalt zu bekämpfen und gefährdete Minderheiten zu schützen, ist Besorgnis erregend. Vergessen wir jedoch nicht, dass es auch türkische Bürger gibt, die sich engagiert und im Sinne von Hrant Dink gegen die jetzige Politik erheben. Sie engagieren sich, wohl wissend, selbst verfolgt und im Fadenkreuz der Verfolgung durch türkische Behörden zu sein. Wir danken euch! Unbeirrt werden wir den gemeinsamen Weg gehen.

Mit dieser Veranstaltung möchten wir das Leben und Wirken von Hrant Dink unvergessen machen. Das Ziel seines Lebens soll uns Erbe sein.

Lassen Sie mich allen Beteiligten, die zu dieser Veranstaltung beitragen, meinen herzlichen Dank ausspreche, ohne namentliche Benennung.

In dieser Veranstaltung werden wir das Lied „Kilikia“ (Kilikien) hören. Die erste Zeile lautet: „Wenn sich die Tore der Hoffnung öffnen…“ Wir Armenier stehen vor diesen Toren der Hoffnung, nämlich der Hoffnung, uns gemeinsam mit den türkischen Bürgern den Tatsachen der Geschichte zu stellen.

Ich schließe mit dem Wunsche, dass die Türkei einmal den Mut aufbringt, die christlichen Minderheiten in ihrem Land als gleichberechtigte Bürger leben zu lassen. Dann hätte sich Hrant Dinks Vision erfüllt.


Tessa Hofmann (Arbeitsgruppe Anerkennung):
Unsere Zukunft erfordert die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Während sich das Verfahren gegen Hrant Dinks Mörder und einige Hintermänner noch dahinschleppt, wurden binnen eines Jahres harte Fakten gegen die Familie Dink geschaffen: Hrant Dink, der unbequeme Staatsbürger und Publizist armenischer Ethnizität, wurde liquidiert, seine Familie größtenteils außer Landes getrieben. Bei dem 2007 gegen Dinks Sohn Arat und gegen Sarkis Seropyan geführten Strafverfahren standen ihnen immer weniger Freunde und Unterstützer zur Seite. Dafür häuften sich die Morddrohungen. Der Sohn des Armeniers, der die Türkei als seine Heimat betrachtete, wurde ins Exil getrieben. Sein Vater, der sich nicht ins Exil drängen lassen wollte, hat diese Weigerung mit dem Leben bezahlt. Die Drohungen gegen die Istanbul verbliebenen Redaktionsmitglieder der von Hrant Dink gegründeten und geleiteten Zeitung „Agos“ reißen nicht ab.

Das Mordopfer hat man also posthum vor Gericht gezerrt und seinen Sohn stellvertretend für den Toten zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Hieran ist nicht nur der Aspekt der Kollektivhaftung über den Tod hinaus problematisch, sondern auch die rassistische Anwendung des Artikels 301. Was meine ich damit? „Agos“ war keineswegs das einzige Medium, das das fragliche Reuters-Interview mit Hrant Dink nachdruckte. Es ist aber das einzige Medium, das dafür in der Türkei gerichtlich belangt wurde. Und zweitens: Dasselbe Gericht in Istanbul-Şişli, das Arat Dink und Sargis Seropyan verurteilte, hatte im Januar 2007 den türkischen Wissenschaftler Taner Akçam vom Vorwurf freigesprochen, mit der Erwähnung des Völkermordes an den Armeniern das Türkentum herabgewürdigt zu haben. Dem Türken Taner Akçam wird also ausdrücklich die Meinungsfreiheit zugestanden, die Deportationen und Massaker im Jahr 1915 als Völkermord qualifizieren. Der Armenier Hrant Dink besitzt dieses Recht nach richterlicher Auffassung nicht.

Gleichzeitig erscheint es immer zweifelhafter, dass eine umfassende juristische Aufarbeitung der Hintergründe gelingen wird, die zu Hrant Dinks Ermordung führten. Die Anwältin der Familie Dink, Fethiye Cetin, hat in einem Interview die Schwierigkeiten dieses Verfahrens verdeutlicht: Da verschwinden Beweismittel, werden zurückgehalten oder manipuliert, und die dafür verantwortlich sind, sind dieselben Geheimdienstinstanzen, von denen die Aufklärung der Hintergründe abhängt. Da werden den Istanbuler Ermittlungsbehörden wesentliche Fakten vorenthalten. Immerhin soviel ist erkennbar: Bereits ein Jahr vor dem Attentat auf Hrant Dink wissen die örtlichen Sicherheitsbehörden in Trabzon nicht nur, dass Dink ermordet werden sollte, sondern sie wissen sogar, wo und wie er sterben wird. Denn die Hauptangeklagten Yasin Hayal und Erhan Tuncel wurden bereits damals observiert. Wir müssen schlussfolgern, dass die lokalen und regionalen Sicherheitsbehörden trotz ihrer intimen Kenntnis über ein geplantes Verbrechen dieses kaltblütig geschehen lassen. Das macht sie zu Mitwissern und disqualifiziert sie, bei der Aufklärung des Verbrechens mitzuwirken. Weitere Probleme kommen hinzu: Die Strafverfolgung findet nur bis zu einer bestimmten Stufe die Unterstützung politischer Entscheidungsträger. Das, was wir bzw. die Staatsanwälte und Ermittlungsbehörden zu sehen bekommen, ist knapp bemessen und genau orchestriert. Und es besteht die große Gefahr, dass das Strafverfahren mit der Verurteilung des 19jährigen Ogün Samast und seiner unmittelbaren Auftraggeber endet, ohne die kriminellen, in die Sicherheitsbehörden, die Verwaltung und andere Bereiche des Öffentlichen Dienstes hineinreichenden Querverbindungen zu enthüllen. Vermutlich werden wir im Zusammenhang gerichtlicher Untersuchungen niemals die Namen derjenigen erfahren, die am Ende der mörderischen Befehlskette standen.

Die Hoffnung, dass Hrant Dinks Tod ein Blutopfer darstellt, das zu mehr Rechtsstaatlichkeit, zum Umdenken oder zur inneren Einkehr führen könnte, hat sich als Illusion erwiesen. Zwar sind etwa einhunderttausend Menschen dem Trauerzug am 23. Januar 2007 gefolgt und haben ihre Solidarität mit dem Opfer durch die Parole „Wir alle sind Hrant Dink“ ausgedrückt. Doch schon kurz nach der Tat solidarisierten sich ebenfalls breite Massen in Sportstadien unter nationalistischen Parolen mit dem jugendlichen Auftragsmörder. Das Tragen weißer Wollmützen und blauer Jeans aus Solidarität mit Ogün Samast wurde Mode. Der Täter präsentierte sich stolz als Patriot vor der Landesfahne, mit Polizisten, die wie bei einem Kavaliersdelikt feixen. Die kurzfristige Bewegung der Aufrechten hat sich nicht zum dauerhaften Protest formieren können.

Falls wir die Verbrechen des 19. Januar und auch des 18. April 2007 wirklich verstehen wollen, müssen wir in das Jahr 1915 zurückkehren. Oder sogar in des Jahr 1912. Für den seit Jahrzehnten kriselnden osmanischen Feudalstaat begann mit den Balkankriegen eine zehn Jahre dauernde Kriegsperiode. Die seit 1913 allein herrschende Nationalisten der „Ittihat ve Terakki“ profilierten sich als Partei entschlossener Patrioten sowohl islamistischer als auch türkistischer Geisteshaltung. Die Hardliner unter ihnen gehörten zu jenem rechtsgerichteten Segment europäischer und nahöstlicher Eliten, die den Krieg als nationales „Heilmittel“ herbeisehnten. Halide Edip, damals eine Galionsfigur der Türkisten, erwähnte 1926 in ihren Memoiren, dass bereits während der Balkankriege diese Elite „das Gefühl“ beherrschte, „die Türken müssten andere ausrotten, um ihrer eigenen Ausrottung zuvorzukommen.“

Die Umdeutung von Genozid als vorbeugende Maßnahme zur Selbstverteidigung ist zwar bei allen Völkermördern anzutreffen, und auch die Leugnung der Tat ist weit verbreitet. Aber der Völkermord an den Christen des Osmanischen Reiches besitzt zwei zusätzliche Besonderheiten: Zum einen stellt er den ersten modernen Genozid dar, den ein Staat bzw. Teile der politischen Elite an den eigenen Bürgern begeht. Zum anderen hat sich keine andere Gesellschaft, in der ein Völkermord stattfand, so hartnäckig und so ausdauernd gegen eine Aufarbeitung und gegen Verantwortungsübernahme gesträubt. Die Abwehr der historischen Realität beginnt mit einem „statistischen Genozid“: Es wird zunächst bestritten, dass es jemals so viele Christen im Osmanischen Reich gegeben habe, wie die Nachfahren der Opfer behaupten. Im zweiten Schritt werden die Opferzahlen selbst bestritten. Und drittens wird in Abrede gestellt, dass es jemals einen Vernichtungsvorsatz gegeben habe. Wir sollen glauben, dass die Massakrierung und die ministeriell dekretierten Todesmärsche von Millionen Menschen Spontanhandlungen und Zufälle darstellten. Dass überhaupt in der letzten Dekade türkisch-osmanischer Herrschaft christliche Bürger zu Schaden kamen, wird entweder auf einen angeblichen Bürgerkrieg, auf Kolateralschäden bei einer angeblich kriegsnotwendigen Zwangsumsiedlung oder auf den angeblichen Hochverrat der Opfer zurückgeführt. Die große Mehrzahl der Äußerungen zu diesem Thema zeichnet sich durch fortgesetzte Unterstellungen und Herabwürdigungen der Opfer aus. Angeblich zum Verrat bzw. zur Sezession vom Osmanischen Reich bereit, hätten Armenier, Griechen und Aramäer/Assyrer ja nur bekommen, was sie angeblich schon immer verdienten. Um noch einmal die Anwältin Fethiye Çetin zu zitieren: „Seit der Gründung der Republik werden die Minderheiten als bedrohlich und nicht vertrauenswürdig angesehen. Sie werden nicht als gleichwertige Bürger betrachtet. (…) Der Druck hat in den letzten Jahren zugenommen. (…)“

Indem die türkische Gesellschaft Andersgläubigkeit mit Bedrohung gleichsetzt und den Mord an Minderheitenangehörigen zur patriotischen Tat verklärt, verhindert sie nicht nur die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern verursacht neue Verbrechen. Die Legitimierung vergangenen Unrechts rechtfertigt auch die Fortsetzung der Gewalt in Gegenwart und Zukunft.

Die Gewaltspirale gegen Angehörige christlicher Minderheiten in der Türkei wird seit 2006 zusehends steiler. Um nur einige Beispiele zu nennen: der heimtückische Mord an dem betenden katholischen Geistlichen Andrea Santoro in einer Kirche in Trabzon am 5. Februar 2006, der Brandbombenanschlag auf eine evangelische Kirche in Odemis am 4. November 2006, Steinwurfangriffe auf eine evangelische Kirche in Samsun im Januar 2007, die dreistündige Folterung und anschließende Abschlachtung von drei evangelischen Christen in Malatya am 18. April 2007, das Zusammenschlagen zweier georgischer Geistlicher in Artvin im September 2007, die Entführung eines syrisch-orthodoxen Abtes bei Mardin und der Angriff auf einen griechisch-orthodoxen Journalisten in Istanbul im November 2007, zuletzt der Messerangriff auf einen katholischen Geistlichen in Izmir im Dezember 2007.

Es ist bezeichnend für die Paranoia und die egozentrische Nabelschau in der türkischen Gesellschaft, dass im Mittelpunkt der Berichterstattung und Politikeräußerungen nicht die Opfer und ihre Angehörigen stehen, sondern stets die vermeintlichen Auswirkungen der Verbrechen auf die Türkei. Man fragt nicht: Was bedeutete der Mord an Hrant Dink oder der Mord an Pfarrer Necati Aydın und seinen Mitarbeitern für die armenische bzw. für die evangelische Gemeinschaft der Türkei? Stattdessen kreiste nach der Ermordung Hrant Dinks das öffentliche Interesse sofort um die Frage, ob und wie diese Untat dem EU-Beitritt der Türkei schaden könnte. Bereits die Ermordung Andrea Santoros 2006 wurde von der Mehrheit der Politiker und Kommentatoren als Versuch interpretiert, den EU-Beitritt zu verhindern. Stets wittern sie dunkle ausländische Kräfte am Werk oder deren inländische Agenten. Übrigens ist auch diese Denkfigur tief in der unaufgearbeiteten Geschichte der Türkei verwurzelt. Nur ein Beispiel: Schon am 19. September 1922 berichtete der britische Hochkommissar aus Konstantinopel nach London, dass „Türken behaupteten, dass Armenier in Smyrna ihre Häuser nieder brannten, um die Türken in den Augen Europas zu diskreditieren.“

Die größte Herausforderung für die geringe gesellschaftliche Toleranz bilden anscheinend ethnische Türken christlichen Glaubens. Diese kleine Gemeinschaft zählt zwar nur 3.500 Menschen und hat seit 1984 lediglich 200 Bekehrungen erzielt. Trotzdem werden sie als ernsthafte Gefahr für den Bestand der Türkei aufgefasst. Ethnische Türken christlichen Glaubens gelten anscheinend als weiße Raben, schwarze Schafe oder ähnliche Verstöße gegen vermeintlich göttliche und natürliche Gebote. Ziya Meral, ein evangelischer Türke, schrieb kurz nach dem Malatya-Massaker in der „Turkish Daily News“: „Irgendwie erscheint unsere persönliche Liebe für Jesus unvereinbar damit, ein Türke und Patriot zu sein. Denn ungeachtet dessen, wer wir wirklich sind und was wir wirklich glauben, was zählt, ist, wie uns die Beamten und Medien nennen: Verräter! Der türkische Staat besitzt aber eine rechtliche Verantwortung für seine gefährdeten Minderheiten.“

Die Diskriminierung der Christen bzw. Andersgläubigen beschränkt sich nicht auf soziale Ausgrenzung. Die Medien der Mehrheitsgesellschaft können die Opfer völlig straffrei in ihrer persönlichen und beruflichen Würde beleidigen und diffamieren, – und das in einer Gesellschaft, die ansonsten bei Verletzungen der persönlichen oder kollektiven Ehre überempfindlich reagiert. Doch wenn es sich um Christen handelt, dann setzen die sonst keineswegs freien Medien der Türkei ungezügelt alle erdenklichen ehrabschneidenden Lügen in die Welt. Über die 2006 nach Artikel 301 angeklagten evangelischen Missionare Turan Topal und Hakan Taştan behaupteten türkische Medien, sie hätten für das Evangelium geworben, indem sie jungen Arbeitslosen Geld und Sex mit jungen Mädchen in Aussicht gestellt bzw. indem sie mit Waffengewalt missioniert hätten. Der Vorsitzende des IHD, des Menschenrechtsvereins der Türkei, Hüsnü Öndül, gab 2007 ohne jede Übertreibung zu bedenken: „Die Lage der Christen in der Türkei ist kritisch.“ Und Aydın Engin, türkischer Kolumnist an der von Hrant Dink gegründeten Zeitung „Agos“, schrieb resignierend: „Die ältesten Völker Anatoliens, die Armenier, die Kurden, die Juden, die Griechen und die syrischen Christen haben nur eine Wahl: ‚Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!’ (…) Den Intellektuellen und Demokraten, die die Vorgänge des Jahres 1915 in der Türkei aufarbeiten und geschichtlich einordnen wollen, schallt dieser Slogan ebenfalls entgegen: ‚Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!’“ Zumindest die armenische Gemeinschaft der Türkei sitzt auf gepackten Koffern.

Aus der Darstellung der Missstände ergeben sich die Mindestvoraussetzungen für Besserungen:

  • Die monströsen Staatsschutzgesetze und namentlich der Knebelparagraph 301 müssen weg! Teilweise sind es allerdings weniger die Gesetze selbst, die problematisch sind, sondern ihre fortgesetzt pervertierte Anwendung. So richtete sich Art. 312 StGB dem Wortsinn nach gegen Volksverhetzung und Diskriminierung. De facto aber wurde dieser Strafrechtsartikel missbraucht, um Menschenrechtler, kritische Publizisten oder Angehörige christlicher Minderheiten abzustrafen, wie den syrisch-orthodoxen Gemeindepfarrer von Diyarbekir, Yusuf Akbulut, als er den Genozid an den Aramäern erwähnte. An die Stelle des berüchtigten 312er trat 2005 Artikel 301. Er wurde zum Hauptinstrument zur Unterdrückung von Meinungs-, Gewissens- und Forschungsfreiheit, wenn es um den Völkermord an den Armeniern geht. Allerdings bin ich sehr skeptisch, dass eine Streichung des 301er tatsächlich gelingt. Die regierende Adalet ve Kalkınma Partisi besitzt zwar nach ihren Wahlsiegen von 2007 dafür die notwendige Mehrheit, aber Regierungschef Erdoğan will ebenso wenig wie seine nationalistischen Vorgänger auf dieses Instrument verzichten. Der vom türkischen Presserat vorgeschlagene und von Erdoğan übernommene Novellierungsentwurf läuft auf Augenwischerei hinaus, die lediglich das Türkentum durch die türkische Nation ersetzt und die Höchststrafe von drei auf zwei Jahre Haft reduziert. Meine Zweifel an ernsthaften Besserungen gründen aber auch im Verhalten der europäischen Politiker. Mit Wegsehen und Schönreden leistet Europa keinen Beitrag zur Hebung der Menschenrechtsstandards im Kandidatenland Türkei. Allerdings dürfen wir uns auch nicht nur allein auf den Handlungswillen von Politikern verlassen. Die Freiheit der Religion, der Meinung, Presse und Forschung bilden grundlegende und universelle Menschenrechte und müssen global durchgesetzt und verteidigt werden, in der Türkei, in Europa, weltweit und überall. Der Schutz ethnischer und nationaler Minderheiten ist seit 1815 Bestandteil des Völkerrechts. Als relevante europäische Willenserklärungen sind vor allem Teil IV des „Kopenhagener Abschlussdokuments“ der KSZE von 1990 über die kollektiven Rechte von Minderheiten zu nennen, ferner der Entwurf einer Europäischen Konvention für den Schutz von Minderheiten (1991) sowie die Europäische Charta der regionalen und Minderheitensprachen (1992). Mit Ausnahme der Charta blieben die anderen Instrumente rechtlich unverbindlich, weil 1991 sechs Mitgliedsstaaten der KSZE mit jeweils kritikwürdiger eigener Minderheitenpolitik eine Verabschiedung verhinderten. Bei diesen Staaten handelte es sich in alphabetischer Reihe um Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien, Rumänien und die Türkei. Liebe Freunde, hier stellen sich nicht nur den Zivilgesellschaften der Verhindererstaaten gewaltige Aufgaben, sondern ganz Europa.
  • Der wichtigste Schritt aber bleibt die Aufarbeitung der Vergangenheit. Die türkischen Herkunftsgemeinschaften in Europa können, müssen und werden dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Das nationalistische Meinungsmonopol konnte bereits dank des Mutes Einzelner durchbrochen werden, doch von einer Massenbewegung oder einer auch nur ansatzweise repräsentativen Minderheitenmeinung sind wir immer noch weit entfernt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Einer Selbstanzeigeaktion in der Türkei, die sowohl der Anerkennung des Völkermordes, wie auch der Abschaffung des 301er dient, folgten nur 200 Personen. Ihnen ist bisher strafrechtlich nichts geschehen, doch eine stärkere Beteiligung verleiht noch stärkeren Schutz.

Nichts entzweit Menschen so stark und dauerhaft wie Völkermord. Nach einem solchen Verbrechen führt der einzige Weg zur Aussöhnung über die umfassende Anerkennung und Aufarbeitung der Vergangenheit. Aussöhnung ist ein langsamer Prozess, weil er alle Teile einer Gesellschaft umfassen muss. Es gibt aber zu diesem Prozess keine Alternative, denn nur durch Aussöhnung gelangt man von einer gespaltenen Vergangenheit zu einer gemeinsamen und teilbaren Zukunft.

Auf den 19. Januar und auf den 18. April 2007 muss ein gemeinsamer April 2008 folgen, an dem sich wünschenswerterweise in Berlin armenische, türkische und kurdische Organisationen beteiligen. Wir möchten schon heute zu unseren Gedenkveranstaltungen im April einladen. Das diesjährige Thema wird der Zukunft verpflichtet sein, denn es lautet: „Kinder und Genozid – Kinder im Genozid“.

Nihat Kentel (Verein Alllmende e.V.)

Ansprache
Ich wurde als Sprecher der Koordinationsgruppe der Veranstaltung, die morgen in der Werkstatt der Kulturen stattfindet, beauftragt, zu Ihnen zu sprechen. Ich möchte meine persönlichen Empfindungen zum Ausdruck bringen und hoffe auf das Verständnis meiner Freunde.

Der Verein Allmende verurteilt die Ermordung von Hrant Dink und glaubt, dass dieser einen Angriff gegen die Existenz und das Miteinander verschiedener Kulturen in Anatolien darstellt.

Allmende weiß, dass es in unserer Geschichte eine Vernichtungs- und Verleugnungspolitik gegen verschiedene Kulturen Anatoliens gegeben hat und dass diese Politik bis heute fortgeführt wird. Allmende glaubt, dass wir unserer Vergangenheit begegnen müssen, damit solche Angriffe auf nichttürkische Teile der Gesellschaft verhindert werden können.

Als ein Migrantenverein in Berlin möchte Allmende hier eine Zusammenarbeit verschiedener Gruppen gegen Nationalismus und Chauvinismus betonen und anstreben.

Allmende begreift Hrant Dink und alle Minderheiten als integrale Bestandteile der anatolischen Kultur und tritt für ein friedliches Zusammenleben in dieser Vielfalt ein. Hrant Dink verkörpert Symbol diese Wünsche, und sein Zielsetzungen müssen von uns allen übernommen und fortgeführt werden.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf einen kleinen Teil der türkischen Gesellschaft lenken. Es handelt sich um etwa einhunderttausend Menschen, die zum Abschied von Hrant Dink gekommen sind. Das sind wir. Wir haben die Botschaft von Hrant Dink verstanden und uns am 23. Januar 2007 in seinem Geiste versammelt. Er hatte uns alles klar und deutlich erklärt und hat uns persönlich gewonnen. Wir haben Hrant Dink geliebt.

Haben wir aber verstanden, was er in Wirklichkeit gefühlt hat? Wissen wir, wie sich ein Kind von Völkermordopfern fühlt? Wie es das Leben und die Welt empfindet?

Er sagte stets „wir sind Anatolier und besitzen viele Gemeinsamkeiten“. Einhunderttausend Menschen haben diese Botschaft angenommen. Ich zweifle jetzt aber daran, ob wir ihn nicht nur als Demokraten, Menschenrechtler oder Antirassisten, sondern auch als einen Armenier wahrnehmen konnten.

War die Distanz zwischen den Armeniern und Türken nicht klar, als er mit aller Kraft Brücken zwischen unseren beiden Völkern zu schlagen versuchte und Ähnlichkeiten aufzeigte?

Wir, einhunderttausend Türken, denken und glauben, dass seine Ermordung ein Fall des si8ch neu entwickelnden Nationalismus, Rassismus und des angeblich tiefen Staats ist. So ein Staat kann aber in Wahrheit nicht sehr tief sein. Nach der Ermordung haben wir gleich in die Richtung gezeigt, wo sich der Nationalismus und der Tiefenstaat befinden; als wären sie eine Geschwulst der Gesellschaft, die wie eine Krankheit mit einer Therapie geheilt werden könnte. Ich zweifle jetzt daran.

Die Jugendgruppe, die sich zu diesem Mord verschworen haben soll, ist ein Spiegel der Gesellschaft. Dieses organisierte Verbrechen besitzt auch eine unorganisierte Seite. Ein Teil geht in den Staat hinein, ein Teil bleibt draußen. Ich frage, welches Verbrechen in unserer Geschichte gegenüber den Minderheiten allein vom Staat oder allein vom Volk begangen wurde? Dieses Verbrechen besitzt sowohl eine Führung, als auch eine Verwaltung. In der heutigen türkischen Gesellschaft erkennen wir viele solche ultranationalistischen Selbstverwaltungen, die von verschiedenen staatlichen Institutionen gefördert, mitgetragen, unterstützt und/oder in Schutz genommen werden.

Es ist daher nicht außergewöhnlich, dass Menschen auf der Straße mit nationalistischen Parolen laufen. Nun ist es auch üblich geworden, dass uniformierte Polizisten unter denselben Parolen laufen, nachdem sie zum Beispiel letztens kurdische Demonstranten auseinandergejagt haben.

Das ist die Farbe unserer Nation und des Staats. Ich möchte hier nur sagen, dass der Staat und die Nation ineinander geflossen sind.

In meiner Kindheit hatte ich einmal ein Bildnis gesehen. Wenn man aus drei Metern Entfernung betrachtet, sieht man eine menschliche Figur, die ihre Hände geöffnet hat. Wenn man näher kommt, erkennt man, dass die Figur aus Tausenden kleiner menschlicher Figuren besteht. Darunter steht: Staat.

Während wir die Ermordung Hrant Dinks als ein Phänomen des Nationalismus betrachten, sehen auf der anderen Seite die Armenier dies als eine Fortführung des Völkermords an, als Salz, das in eine noch offene Wunde gerieben wird und ein ungesühntes Unrecht darstellt. Dass diese Ermordung auch bedeutete: Millionen Tote, die ohne Seelenabschied begraben wurden, ein zerstreutes Volk, beschlagnahmtes Eigentum, eine zertretene Kultur – das verstehen wir noch nicht. Wir glauben immer noch fest daran, dass dieser Mord „bloß“ ein Nationalismusproblem unseres Landes ist. Es ist leider ironisch, dass die Opfer uns zu Hilfe kommen. Wenn morgen immer noch Armenier zu unserer Veranstaltung kommen und die Ermordung Hrant Dinks aus unseren Augen als ein Problem des Nationalismus zu betrachten versuchen und diesen gewaltigen Sprung zu uns machen wollen, trotz aller Zusatzbedeutungen und all dessen, wie sie diese Ermordung eigentlich empfinden, möchte ich meine aufrichtige Hochachtung ausdrücken und bitte um Entschuldigung für unsere Kurzsichtigkeit und unser Unverständnis.


Geworg Emin (*1919, Aschtarak, †1998, Jerewan)
Aphorismus
Mit dem Lied geh vorsichtig um,
wie mit einer Waffe,
falls das Jahrhundert verworren ist.

Denn wisse:
Aus dem gleichen Blei gießt man
Kugeln und Lettern.


Hrant Dink

Die taubenhafte Furcht meines inneren Geistes

Als die Staatsanwaltschaft von Şişli Ermittlungen gegen mich einleitete, war ich zunächst gar nicht beunruhigt. Der Vorwurf lautete „Beleidigung des Türkentums“. Es war nicht das erste Mal, dass man diesen Vorwurf gegen mich erhob. Mit dieser Art der Anklage war ich bereits vertraut, weil man mich bei einem ähnlichen Verfahren in Urfa schon einmal desselben Vergehens bezichtigt hatte.

Das Verfahren in Urfa lief bereits seit drei Jahren; die Anklage lautete: „Herabsetzung des Türkentums“. Auf einer Konferenz im Jahre 2002 hatte ich während einer Diskussion geäußert, dass ich „kein Türke“ sei, sondern vielmehr „ein aus der Türkei stammender Armenier“.

Prozess wegen „Beleidigung des Türkentums“
Ich war überhaupt nicht auf dem Laufenden, wie sich der Prozess entwickelte. Er interessierte mich auch nicht. Meine mit mir befreundeten Anwälte wohnten der Anhörung in Urfa in meiner Abwesenheit bei.

Als ich dann bei dem Prozess in Şişli gegenüber dem Staatsanwalt meine eidesstattliche Aussage abgab, war ich sogar ganz entspannt. Schließlich hatte ich ein ungebrochenes Vertrauen in meine Beweggründe und in das, was ich geschrieben hatte.

Wenn der Staatsanwalt erst einmal den gesamten Text meines Leitartikels – und nicht nur den einen Satz, der für sich genommen ohnehin keinen Sinn ergab – gelesen und genau geprüft hätte, würde er ganz selbstverständlich begreifen, dass es mir fern lag, „das Türkentum herabzusetzen“; und dann würde man dieses lächerliche Verfahren endlich einstellen.
Ich war mir sicher, dass dieses Verfahren unter keinen Umständen zu einem gerichtlichen Prozess führen würde. Ich war mir meiner selbst sicher. Überraschung! Der Prozess wurde eröffnet. Trotzdem, meinen Optimismus verlor ich dabei nicht.

So sehr war ich davon getragen, dass ich sogar [Kemal] Kerincsiz – also dem Anwalt, der mich verklagte – in einer Fernsehdiskussion, der ich live zugeschaltet war, sagte, er solle sich keine allzu großen Hoffnungen machen, dass ich im Verlauf des Verfahrens auch nur in einem Anklagepunkt für schuldig befunden werden würde, dass ich aber – falls ich wider Erwarten doch verurteilt werden sollte – dieses Land verlassen würde. Ich war mir meiner sicher, denn aus meinem Artikel konnte man beileibe keine Intention herauslesen, das Türkentum herabzusetzen – nicht ein Milligramm eines solchen Vorsatzes ließ sich darin finden.

All diejenigen, die meine Artikel vollständig gelesen haben, können das bezeugen. Es ist ja sogar so, dass der Untersuchungsbericht, der auf Geheiß des Gerichts von drei Experten der Universität in Istanbul angefertigt wurde, zu genau diesem Ergebnis kam.

Es gab also überhaupt gar keinen Anlass, für den man mich hätte belangen können; bestimmt würde man früher oder später von diesem Irrweg, den man mit dem Verfahren eingeschlagen hatte, wieder abkommen, so dachte ich … Also bat ich immer wieder um Geduld. Die vorgegebene Marschrichtung indessen änderte sich nicht.

Der Rückschlag
Entgegen der Befunde des Expertenberichts beantragte der Staatsanwalt eine Verurteilung. Der Richter verurteilte mich zu sechs Monaten Gefängnis. Als ich von meiner Verurteilung erfuhr, spürte ich den bitteren Druck der Hoffnungen, die ich die ganze Zeit über genährt hatte. Ich war verwirrt. Meine Enttäuschung und mein innerer Aufruhr hatten einen neuen Höhepunkt erreicht.

Seit Tagen und Monaten schon hatte ich mich mit meinen Ankündigungen zurückgehalten, dass ich freigesprochen und meine Kritiker dann reumütig sein würden wegen all dem, das sie über mich verbreitet hatten.

Die Zeitungsberichte, die Leitartikel und die Fernsehsendungen berichteten über sämtliche Anhörungen des Prozesses. Und alle zitierten mich mit den Worten: „Das Blut der Türken ist vergiftet.“ Immer und immer wieder vermehrten sie meinen Ruf als „Feind der Türken“. Im Gerichtssaal attackierten mich die dort anwesenden Faschisten mit rassistischen Flüchen. Sie überhäuften mich mit Beleidigungen, die sie auf ihre Plakate gekritzelt hatten. Die unzähligen Drohungen, die monatelang per Telefon, E-Mail und Brief auf mich einhagelten, wurden immer mehr. Durch all das kämpfte ich mich geduldig hindurch, in der Erwartung eines Freispruchs.

Wenn das Urteil erst einmal verkündet sein würde, dann würde die Wahrheit sich durchsetzen und all diese Leute wären schamvoll mit ihren Worten und Taten konfrontiert.

Aufrichtigkeit als einzige Waffe
Meine einzige Waffe war meine Aufrichtigkeit. Dann aber wurde das Urteil verkündet und all meine Hoffnungen waren auf einen Schlag zerstört. Von diesem Zeitpunkt an war ich so verzweifelt, wie man es als Mensch nur sein kann. Der Richter hatte sein Urteil im Namen der „Türkischen Nation“ verkündet; rechtlich war nun also festgelegt, dass ich „das Türkentum herabgesetzt“ hatte. Alles andere hätte ich durchstehen können, doch hierfür war ich nicht gerüstet.

Nach meinem Verständnis ist Rassismus die Herabsetzung einer Person durch eine andere Person, auf der Grundlage eines Unterschiedes – ethnisch oder religiös – und eine solche Herabsetzung kann niemals vergeben werden.

In diesem mental aufgewühlten Zustand gab ich Vertretern der Medien sowie Freunden gegenüber, die sich vor meiner Tür eingefunden hatten, eine Erklärung darüber ab, ob ich, wie angekündigt, das Land verlassen werde.

„Ich werde mich mit meinen Anwälten beraten. Ich werde das Oberste Berufungsgericht anrufen; falls nötig, werde ich sogar bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen. Für den Fall, dass ich nicht von einer dieser Instanzen freigesprochen werde, werde ich mein Land verlassen. Nach meiner Auffassung hat jemand, der eines solchen Verbrechens für schuldig befunden wurde, sein Recht, an der Seite seiner – von ihm herabgesetzten – Mitbürger zu leben, verwirkt.“

Als ich das sagte, war ich emotional aufgewühlt, wie immer. Meine einzige Waffe war meine Aufrichtigkeit.

Doch die dunklen Mächte, die mich auszusondern gedachten, um mich so zu einem leichten Ziel in den Augen der türkischen Öffentlichkeit zu machen, fanden auch an meiner Erklärung etwas faul, und so strengten sie erneut einen Prozess gegen mich an. Die Anklage: Versuchte Einflussnahme auf das Gericht.

Den türkischen Redaktionen lagen alle meine Erklärungen vor, doch ihre Aufmerksamkeit erregte nur das, was in AGOS zu lesen war. Und so wurde weitläufig verbreitet, dass die für AGOS rechtlich einstehenden Personen und ich erneut angeklagt worden waren. Wahrscheinlich ist es das, was man unter „schwarzem Humor“ versteht.

Vertrauensverlust in das türkische Rechtssystem
Im Übrigen: Wer hat das Recht, Einfluss auf die Rechtsprechung zu üben, wenn nicht ich, als Angeklagter! Was für eine merkwürdige Ironie: Der Angeklagte wird beschuldigt, die Rechtsprechung zu beeinflussen.

Ich muss gestehen, dass ich mein Vertrauen in das „Recht“ und das „Rechtssystem“ der Türkei verloren habe, um das mindeste zu sagen. Und wie hätte es anders sein können? Hatte man diese Staatsanwälte, diese Richter nicht an den Universitäten ausbilden lassen, hatten sie den Abschluss der Fakultät für Rechtswissenschaft etwa nicht bestanden? Waren sie etwa nicht in der Lage, das, was sie lasen, zu verstehen und zu interpretieren?

Aber es stellt sich nun heraus, dass die Rechtsprechung in diesem Land – genau so, wie es viele Staatsmänner und Politiker ganz ungeniert öffentlich verlautbaren – nicht unabhängig ist.

Die Rechtsprechung beschützt nicht etwa die Rechte der Bürger, sondern die des Staates. Die Rechtsprechung stellt dem Bürger nichts zur Verfügung, sondern untersteht der Kontrolle des Staatsapparates. So war ich auch absolut davon überzeugt, dass – obwohl man verkündet hatte, dass die Entscheidung in meinem Fall „im Namen der türkischen Nation“ getroffen worden war – diese Entscheidung vielmehr der „türkische Staat“ gefällt hatte.

Also beschlossen meine Anwälte, das Oberste Berufungsgericht anzurufen. Doch wer hätte mir garantieren können, dass die mächtigen Kräfte, die mich bisher so bedrängt hatten, nicht auch dort ihren Einfluss geltend machen würden? Und woher konnte ich sicher sein, dass das Oberste Berufungsgericht die richtige Entscheidung fällen würde?

Hatte nicht eben dieses Gericht damals das unrechtmäßige Urteil bestätigt, nachdem man die Stiftungen für Minderheitsrechte ihrer Ansprüche auf ihre Grundstücke beraubt hatte? Das Gericht hatte das Urteil sogar gegen den Widerstand des Obersten Staatsanwaltes durchgesetzt. Trotzdem: Wir gingen in die Berufung. Doch was hat es uns gebracht? Der Oberste Staatsanwalt des Berufungsgerichtes bestätigte den Befund des Expertenberichtes. Er befand, dass kein Vergehen vorlag und beantragte meinen Freispruch. Und das Gericht verurteilte mich doch.

Da der Oberste Staatsanwalt seiner Sache genau so sicher war, dass er verstanden hatte, was er von mir gelesen hatte, wie ich mir sicher war über das, was ich geschrieben hatte, legte er Widerspruch gegen die Entscheidung des Gerichts ein und legte den Fall dem Obersten Richtergremium des Berufungsgerichtes vor.

Aber was kann ich sagen? Die Mächte, die mich meinem Schicksal zuführen wollten und die den Ablauf des gesamten Prozesses beeinträchtigten, waren auch hier hinter den Kulissen tätig. Daher wurde auch von Seiten des Obersten Richtergremiums per Mehrheitsentscheid beschlossen, dass ich das Türkentum herabgesetzt hatte.

Wie eine Taube
So viel steht fest: Diejenigen, die mich ausgesucht haben, um mich zu schwächen und mir die Möglichkeit zu nehmen, mich zu verteidigen, haben mit ihren Mitteln obsiegt. Mit ihren fehlgeleiteten und niederträchtigen Vorstellungen haben sie die Gesellschaft infiltriert; sie haben einen Großteil der Bevölkerung dazu gebracht, Hrant Dink als jemanden zu sehen, „der das Türkentum herabsetzt“.

Überall stapeln sich bei mir die hasserfüllten Drohungen dieser Leute. Mein Computer ist voll davon. Wie sehr sind diese Drohungen ernst zu nehmen? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Die psychologische Folter aber ist für mich eine reelle und unerträgliche Tatsache. „Was denken diese Leute über mich?“ Diese Frage quält mich.

Unglücklicherweise bin ich heute bekannter, als das früher der Fall war. Ich spüre, viel mehr als früher, wie mich Leute anschauen und mir Blicke zuwerfen, die besagen: „Da, schau mal, ist das nicht dieser Armenier?“ Und reflexartig beginnen meine Gedanken mich zu quälen.

Zum einen ist es Neugier, zum anderen ist es ein Unbehagen. Es ist diese Aufmerksamkeit, die mich quält, und die Befürchtungen über das, was passieren könnte.

Besessen von dem, was links, rechts, vor und hinter mir passiert. Meinen Kopf drehe ich ständig hin und her. Jede neue Bedrohung nehme ich sofort mit einem Ruck ängstlich in Augenschein. Das ist der Preis, den du bezahlen musst.

Was hat Außenminister Abdullah Gül doch gleich gesagt? Und was der Justizminister Cemil Çiçek? „Na, komm schon. Nun übertreib mal nicht [was den Paragraphen 301 angeht]! Gibt es überhaupt jemanden, der damit verurteilt wurde, den man tatsächlich ins Gefängnis gesteckt hat?“

Als ob Verhaftung das einzige wäre, was dieser Paragraph anrichtet! Ich werde euch sagen, was dieser Paragraph anrichtet, ich werde es euch sagen …

Wisst ihr Minister, was es bedeutet, einen Menschen in den permanent verängstigten Zustand einer Taube zu versetzen? Wisst ihr das? Das scheint euch einfach nicht zu interessieren!

„Leben oder Tod“
Was ich durchgemacht habe, ist kein leichter Prozess. Ganz zu schweigen von dem, was wir als Familie durchgemacht haben. Es gab Momente, in denen ich ernsthaft überlegt habe, das Land zu verlassen, weit weg zu ziehen – vor allem, als zunehmend auch Leute bedroht wurden, die mir nahe stehen.

An diesem Punkt war ich vollkommen hilflos. Das nennt man wohl zwischen „Leben oder Tod“ wählen. Für mich selbst hätte ich eine Entscheidung treffen können, aber ich hatte nicht das Recht, über das Leben meiner Freunde und Familie zu entscheiden.

Mir selbst gegenüber hätte ich die Heldenrolle spielen können, aber ich hatte nicht das Recht, mutig zu sein, wenn ich damit irgendjemand anderen in Gefahr gebracht hätte. In dieser hoffnungslosen Zeit scharte ich meine Familie, meine Kinder um mich und suchte Zuflucht dort. Sie gaben mir die stärkste Unterstützung; sie hatten Vertrauen in mich.

Egal, wo ich mich aufhielt, sie waren immer bei mir. Wenn ich gesagt hätte, „Kommt, lasst uns aufbrechen“, dann wären sie mit mir gegangen; wenn ich gesagt hätte, „Wir bleiben hier“, dann wären sie mit mir geblieben.

Bleiben und Widerstand leisten
Wenn wir aber gehen würden, wohin würden wir dann gehen? Nach Armenien? Wie lange könnte jemand wie ich, der Ungerechtigkeit nicht ertragen kann, das Unrecht dort aushalten? Würde sich die Situation dort nicht noch verschlimmern? Und in Europa hätte ich nicht leben können.

Immer, wenn ich im Westen auch nur drei Tage lang unterwegs war, vermisste ich mein Land, meine Heimat schon am vierten Tag und ich krümmte mich vor Langweile. „Wann ist das hier vorbei, wann bin ich endlich wieder zuhause?“

All die Annehmlichkeiten hätten mich fertig gemacht! Eine brodelnde Hölle gegen einen vorgefertigten Himmel einzutauschen – das wäre nichts für mich, so bin ich einfach nicht gestrickt. Ich und meine Leute sind eher so veranlagt, aus freien Stücken zu versuchen, die Hölle, in der man lebt, zu einem himmlischen Ort zu machen.

Es gab für uns keine Alternative dazu, in der Türkei zu leben, denn es war genau das, was wir wirklich wollten. Und es war genau das, was wir auch tun mussten – aus Respekt gegenüber den tausenden von Freunden in der Türkei, die für die Demokratie gekämpft und uns unterstützt haben.

Wir waren entschlossen zu bleiben und uns gegen die Zustände zur Wehr zu setzen. Wenn man uns allerdings eines Tages dazu zwingen würde zu gehen, würden wir – so wie schon 1915 unsere Vorfahren – aufbrechen; ohne zu wissen, wohin es geht, würden wir dieselben Straßen entlang marschieren. Wir würden den Leidensweg beschreiten, den Schmerz nachempfinden …

Mit diesem schändlichen Vorwurf würden wir unser Heimatland verlassen. Und wir würden dahin gehen, wohin uns unsere Füße tragen, nicht unsere Herzen.

Ängstlich und frei
Ich wünsche mir, dass wir niemals so einen Abschied durchmachen müssen. Wir haben immer noch zu viele Gründe [hier bleiben zu wollen], und wir hoffen, dass es niemals passieren wird.

Ich werde nun eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen. Ich weiß nicht, wie lange sich ein solcher Prozess hinziehen wird. Was ich aber weiß, ist, dass ich, bis der Prozess durchgestanden ist, hier in der Türkei bleiben werde, und das beruhigt mich ein wenig.

Wenn das Gericht zu meinen Gunsten entscheiden sollte, werde ich zweifelsohne sehr glücklich sein – es würde bedeuten, dass ich mein Land niemals würde verlassen müssen.

Das Jahr 2007 wird für mich sicherlich ein noch schwieriger werden. Die Verfahren werden fortgesetzt, und man wird neue Verfahren eröffnen. Wer weiß schon, welche weiteren Ungerechtigkeiten mir noch bevorstehen?

Während sich all das ereignet, gibt mir aber diese eine Gewissheit Sicherheit: Ja, ich empfinde mich als gefangen in dem spirituellen ängstlichen Unbehagen einer Taube, aber ich weiß, dass man in diesem Land Tauben in Ruhe lässt. Tauben leben ihr gesamtes Leben in dem Tumult der Stadt, in dem Trubel der Menschen. Ja, sie sind ängstlich, aber sie sind auf ihre Art auch frei.

© Agos/Qantara.de 2007 (Internet-Fundstelle: http://www.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-468/_nr-675/i.html)

Übersetzt aus dem Türkischen von F.M. Göcek; übersetzt aus dem Englischen von Lewis Gropp.


Aus dem 55. Psalm, 7. bis 9. Vers:
O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände! Siehe, so wollte ich in die Ferne fliehen und in der Wüste bleiben. Ich wollte eilen, dass ich entrinne vor dem Sturmwind und Wetter.


Achylleas Lykos (Hellenische Gemeinde zu Berlin): Ansprache

Achylleas Lykos (Hellenische Gemeinde zu Berlin): Ansprache

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde!
Liebe Frau Eypper, liebe Frau Hofmann,

Ich danke Ihnen für die Einladung und für die Möglichkeit, heute das Wort an Sie zu richten. Ich tue dies in doppelter Eigenschaft: Als Bürger der Hellenischen Republik und als Vorsitzender eines Dachverbandes griechischer Organisationen, nämlich der Hellenischen Gemeinde Berlin e.V. Zu unseren Mitgliedsverbänden gehört der Verein der Griechen aus Pontos, und es war uns ein Herzensanliegen, 2006, im 90. Jahr des Gedenkens an den Beginn des Völkermordes an den pontischen Griechen eine Petition zur förmlichen Anerkennung des Genozids an allen kleinasiatischen Griechen in den deutschen Petitionsausschuss einzubringen. Dieses Petitionsverfahren ist noch anhängig. Mit Genugtuung haben wir inzwischen zur Kenntnis genommen, dass die größte internationale Berufsvereinigung der Völkermordforscher am 16. Dezember 2007 eine Resolution verabschiedet hat, mit der – endlich! – auch der Genozid an den Mitopfern der Armenier anerkannt wird. Die International Association of Genocide Scholars ruft mit dieser Resolution die Republik Türkei zur unverzüglichen Vergangenheitsaufarbeitung und Wiedergutmachung auf.

Wie angebracht solche Forderungen sind, zeigt nicht nur das inzwischen 93 Jahre währende Schweigen oder gar Leugnen des türkischen Staates und der gesellschaftlichen Eliten in der Türkei. In schrecklicher Weise haben die Ereignisse des Jahres 2007 die Mächtigkeit und anhaltende Wirkung tradierter Feindbilder und eines niemals aufgearbeiteten Christenhasses bestätigt. Hass auf christliche Minderheiten sind zum festen Bestandteil türkischer Identität geworden und jederzeit abrufbar: in Trapesunta oder Trabzon, in Melitene oder Malatya, in Smyrni bzw. Izmir, in Konstantinopel bzw. Istanbul. Überall stehen junge, fehlgeleitete und missbrauchte junge Menschen bereit, um auf Befehl ihrer fanatischen Auftraggeber und Hintermänner Verbrechen an christlichen Geistlichen und anderen Vertretern christlicher Minderheiten zu begehen. Nur so ist es erklärbar, dass eine winzige, weitgehend aus alten Menschen bestehende Gemeinschaft wie die griechisch-orthodoxe weiterhin angegriffen wird.

Als hellenischer Bürger und damit Bürger eines unmittelbaren Nachbarn der Türkei erschreckt mich die latente Gewalt in unserem Nachbarland. Ich weiß, dass darunter in erster Linie die Menschen in der Türkei leiden, insbesondere die ethnisch-religiösen Minderheiten des Landes und die politisch Oppositionellen. Mich erschreckt, dass auch die AKP-Regierung trotz ihrer politischen Stärke nichts Grundsätzliches unternimmt, um die Verhältnisse zu bessern. Sie betreibt bestenfalls Kosmetik und Halbherzigkeit.

Aber wie bereits in der letzten Dekade osmanischer Herrschaft, gibt es auch heute eine klar erkennbare europäische Dimension der Verantwortung für das, was in der Türkei und mit ihren Minderheiten geschieht. Europa hat damals weggesehen und sich täuschen lassen, es schaut auch heute fort und lässt sich täuschen. Der AKP gelingt die Irreführung ebenso gut wie einst dem jungtürkischen Komitee. Zudem sind europäische Instanzen von äußerster Schwerfälligkeit. Es hat zehn lange Jahre gedauert, bis der Europäische Gerichtshof seinen ersten Beschluss zu den staatlich beschlagnahmten Besitztümern von Minderheiten in der Türkei bekannt gab. Das war vor genau einem Jahr. Nach diesem Urteil hat die Türkei gegenüber der Stiftung „griechisch-orthodoxes Jungen-Gymnasium“ (Große Schule) das Recht auf Schutz des Besitztums verletzt. Falls die Türkei die in diesem Verfahren genannten beiden Besitztümer nicht innerhalb von drei Monaten Grundbuchauszüge zurückgibt, so muss sie insgesamt 910.000 Euro, einschließlich Gerichtskosten, zahlen. Bis heute hat die Türkei den Entscheid des Europäischen Gerichtshofs nicht erfüllt, sie hat allerdings auch noch keine Strafe zahlen müssen.

Für Hrant Dink war dieses schleppende Tempo Europas tödlich. Er hatte im Oktober 2006 den Europäischen Gerichtshof angerufen, nachdem das oberste Gericht der Türkei seine Verurteilung nach Artikel 301 bestätigt hatte. Hrant Dinks Mörder war schneller.

Doch mit der Konstatierung empörender oder beschämender Zustände allein verbessern wir unsere Lage nicht. Frau Hofmann hat recht, wenn sie uns daran erinnert, dass die allgemeinen Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten global und universell erkämpft und verteidigt werden: jeden Tag, in mühseliger Kleinarbeit und durch aktive, handlungsbereite Bürger. Wir in Berlin lebende Griechen sind bereit, gemeinsam mit türkischen, kurdischen, armenischen, aramäischen und deutschen Organisationen für diese Ziele zu arbeiten. Dies schulden wir nicht nur der historischen Wahrheit, sondern unserer gemeinsamen Heimat in einem integrierten Europa der Menschen- und Minderheitenrechte.

Gedenkveranstaltung „In Memoriam Hrant Dink: Minderheiten schützen, Menschenrechte verteidigen“ (Berlin, 19. Januar 2008)