Vor 80 Jahren ermächtigte nach dem Reichstagsbrand der deutsche Gesetzgeber die inzwischen nationalsozialistisch dominierte Regierung, am Parlament vorbei Gesetze zu erlassen – der Weg war frei für die Nazis auf ihrem Weg zur Verfolgung nicht nur politischer Gegner, sondern der Umsetzung ihrer rassistischen und genozidalen Politik.

Wir veröffentlichen aus diesen Anlass einen kritischen Kommentar von Nadja Thelen-Khoder (Köln; siehe auch http://www.migrapolis-deutschland.de/?id=2190):

„Freiheit und Leben kann man uns nehmen –die Ehre nicht!“ (2)

Ein Kommentar von Nadja Thelen-Khoder – Köln zum 21. und 23. März 1933

In diesen Tagen hört man viel von der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 und von ihrer „Machtübernahme“. Dass sie die Macht keineswegs aus eigener Kraft „ergriffen“ oder „übernommen“, sondern sie vielmehr übergeben bekommen haben, zeigt sich nirgendwo so deutlich wie an diesen beiden Tagen, die sich gerade zum 80. Male jähren:

Am 21. März 1933 inszenierte Joseph Goebbels den „Tag der nationalen Erneuerung“ oder den „Tag von Potsdam“ (3), und das Bild des Handschlags zwischen dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und dem von ihm schon am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannten Adolf Hitler  (4) hing zwölf Jahre lang in vielen deutschen Wohnstuben. „Die Sozialdemokraten verzichteten demonstrativ auf eine Teilnahme. Nicht teilnehmen konnten die Abgeordneten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Sie waren, wie Innenminister Wilhelm Frick höhnisch bemerkte, ‚durch nützliche Arbeiten in den Konzentrationslagern’ am Erscheinen gehindert.“ (3)

Am 23. März 1933 waren die Abgeordneten des Deutschen Reichstages, der nach dem Brand vom 27. Februar in der Kroll-Oper tagte, aufgerufen, über das von Hitler vorgelegte „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ abzustimmen, das es der Regierung ermöglichen sollte, ohne Zustimmung des Parlamentes Gesetze zu erlassen. Die Regierung wurde also zur Gesetzgebung ermächtigt [daher „Ermächtigungsgesetz“ (5)] und die Abschaffung der Demokratie legalisiert.

Jetzt konnten die Nazis zügig Gesetze verfassen, die auch unmittelbar in Kraft traten. In Ansatz 3 heißt es: „Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze werden vom Reichskanzler ausgefertigt und im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nichts anderes bestimmen, mit dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft.“ (6)

Dieser Änderung der Weimarer Verfassung mussten zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen. Vertreten waren folgende Parteien:

  1. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)
  2. Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die mit der NSDAP seit dem 5.3. koalierte und den Nazis damit die Regierungsmehrheit verschaffte
  3. Zentrum
  4. Bayerische Volkspartei (BVP)
  5. Deutsche Staatspartei
  6. Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

444 Abgeordnete stimmten dem Gesetz zu, nämlich diejenigen der NSDAP, der DNVP, des Zentrums, der BVP und der Deutschen Staatspartei. Die 94 Abgeordneten der SPD nicht, und die 81 gewählten Abgeordneten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) konnten nicht an der Abstimmung teilnehmen, weil ihre Mandate für null und nichtig erklärt worden und viele schon inhaftiert waren (s.o.).

Denn nur einen Tag nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 wurde die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, die sog. „Reichstagsbrandverordnung“ (7) von Hindenburg unterzeichnet, die einen permanenten Ausnahmezustand installierte und damit alle Grundrechte aufhob. Regimegegner konnten ohne Anklage und Beweise verhaftet und Zeitungen verboten werden.

Die Menschheit kann stolz sein auf den schönen Satz „Freiheit und Leben kann man uns nehmen – die Ehre nicht!“ Und auch die Schlusssätze der Rede von Otto Wels sind ausgesprochen und gehört worden – auch von jenen 444 Abgeordneten, die dem Ermächtigungsgesetz zustimmten: „Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht – (Lachen bei den Nationalsozialisten.) – verbürgen eine hellere Zukunft.“ (8)

Otto Wels hatte benannt, worüber da abgestimmt werden sollte und welche Zustände bereits herrschten: „Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt.“ (2)

Aber die 444 Abgeordneten stimmten zu, die Abgeordneten der Regierungskoalition aus NSDAP und DNVP (denn die Nazis hätten alleine keine Regierung bilden können, auch nach den Wahlen am 5. März nicht) sowie diejenigen des Zentrums, der BVP und der Deutschen Staatspartei.

Nein, es war eben keine „Machtergreifung“ und keine „Machtübernahme“ – es war eine Machtübergabe! Die Mehrheit der deutschen Abgeordneten stimmte der Abschaffung der parlamentarischen Demokratie zu, und zwar nicht deshalb, weil sie es mal wieder nicht gewusst hätten.

Bundesarchiv R-165, Bild 244-42, Deportation der Sinti und Roma aus Asperg

Auf dem Bild von der Deportation der Sinti und Roma in Asperg (1) steht diese Frau mit den in ihre Hüften gestemmten Armen. 500 000 Sinti und Roma wurden aus Deutschland deportiert. Auch das haben viele Nachbarn gesehen und nichts dagegen unternommen. Und seit Jahrzehnten höre ich immer wieder den deutschen Satz: „Was hätten wir denn tun sollen?“

Die Antwort ist ebenso einfach wie sie damals schwer zu geben war: „Nein!“ sagen (9). Es gehörte Mut zu diesem „Nein!“, aber es war möglich! Das beweisen die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit ihrem Vorsitzenden Otto Wels, der im Anschluss an seine Rede ins Exil musste. Er und andere bewiesen, dass man damals sehr wohl anders handeln konnte!

Denn es gibt ein Mittel gegen das deutsche Syndrom des indifferenten oder sogar billigenden Zuschauens bei Staatsverbrechen: „Vor allem soll man nicht gleichgültig sein.“ (10) Diesen Satz des großen vor wenigen Tagen verstorbenen Widerstandskämpfers und Mitautors der Menschenrechtserklärung Stéphane Hessel [„Empört Euch“ (11)] dürfen wir nicht vergessen. Er ist das Erbe, das uns auch die 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges hinterlassen haben, und wofür so viele mutige Menschen ihr Leben riskiert und verloren haben. Sie dürfen nicht umsonst gestorben sein!

Schützen wir unsere parlamentarische Demokratie gegen alle Angriffe, die offenen und die im Hintergrund, die heimlichen und unheimlichen. Denn was bedeutet es heute, wenn Parlamentarier über Gesetze abstimmen sollen, die sie gar nicht inhaltlich verstanden bzw. zur Kenntnis genommen haben? (Manch ein Politiker soll Gesetzen zustimmen, die er noch nicht einmal hat kopieren dürfen, um sie in aller Ruhe zuhause zu lesen.) Oder wenn Gesetze im Bundestag verabschiedet werden, wenn nur sehr wenige Parlamentarier anwesend sind? (In diesem Zusammenhang ist dann von „Durchwinken von Gesetzen“ die Rede.)

Damals bedurfte es in Deutschland viel Mut, die Demokratie zu verteidigen, so viel mehr Mut als heute in Deutschland. Und wie viel Mut brauchen so viele Menschen heute in anderen Ländern, um für ihre demokratischen Rechte einzustehen?

Wahre Helden erkennt man daran, dass sie im entscheidenden Moment „Nein!“ sagen (nicht zufällig sind acht der „Zehn Gebote“ in Tora und Bibel eigentlich Verbote und formulieren „Du sollst nicht“). Sie kommen nicht als goldene Ritter siegreich und hoch zu Ross, sondern sind standhafte Menschen, die bereit sind, mehr oder weniger große Nachteile durch ihr „Nein!“ zu erleiden. Wie lautet doch gleich die „Frohe Botschaft“ des jüdischen Rabbi, nach dem die Christen sich benennen und den die Muslime als den Propheten Isa verehren? „Fürchtet Euch nicht!“ Denn Er spricht von Brüderlichkeit und also vom ewigen Leben.

„Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. … Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht – (Lachen bei den Nationalsozialisten.) – verbürgen eine hellere Zukunft.“ (2)