In einem Offenen Brief wendet sich der Vorstand der Arbeitsgruppe Anerkennung gegen die Entscheidung der Großen Koalition, die zweite und dritte Lesung der Anerkennungs-Resolution des Bundestags mit Rücksicht auf die Türkei ad infinitum zu verschieben:


OFFENER BRIEF ANERKENNUNG DES OSMANISCHEN GENOZIDS
NICHT DER REALPOLITIK OPFERN!

Am 24. April 2015 gedachte der Deutsche Bundestag des Beginns des Genozids an christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich (Armenier, Aramäer/Assyrer/Chaldäer sowie griechisch-orthodoxe Christen) vor einhundert Jahren. In ihren Gedenkreden verwendeten Abgeordnete aller Fraktionen dabei erstmals das Wort Genozid. Trotz der positiven Grundtendenz verpasste es allerdings der Bundestag, das symbolträchtige Datum des 24. April zu nutzen, um die damaligen Ereignisse seitens der bundesdeutschen Legislative förmlich und einstimmig als Genozid anzuerkennen. Stattdessen haben die Fraktionen jeweils eigene Entwürfe vorgelegt, die dem Auswärtigen Ausschuss zur weiteren Behandlung überwiesen wurden.

Mit großer Besorgnis entnehmen wir nun der Presse, dass die parlamentarische Anerkennung des Völkermordes an den osmanischen Christen offenbar mit Rücksicht auf die Tagespolitik verzögert wird. Bundeskanzlerin Merkel hat bei ihrer Pressekonferenz mit dem türkischen Ministerpräsidenten am 18.10.2015 dieses wichtige geschichtspolitische Thema in Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik gebracht. Auf Wunsch der Regierungskoalition verzögert der Bundestag die noch ausstehende zweite und dritte Lesung der Resolution zum Genozid. Offenbar soll der Türkei, von der Unterstützung bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme erwartet wird, auch in dieser Frage entgegengekommen werden.

Dieser Rückgriff auf Realpolitik wirkt umso peinlicher, als sie im engen Kontext verbrecherischer deutscher Türkei- und Armenienpolitik steht. Angela Merkels indirekter Amtsvorgänger, Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, wehrte am 17.12.1915 den Vorschlag einer stärkeren kritischen Distanzierung von der Vernichtungspolitik des osmanischtürkischen Bündnispartners mit den Worten ab: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Der deutsche Botschafter Hans von Wangenheim lehnte im selben Jahr die Bitte des armenischen Patriarchen um deutsche Intervention zugunsten der bedrohten Armenier_innen mit der Begründung ab, dies sei inopportun.

Die Bundeskanzlerin begrüßte auf ihrer Pressekonferenz den Vorschlag des türkischen Ministerpräsidenten nach Einsetzung einer Historikerkommission, die sich mit dem Thema beschäftigen soll. Damit übernimmt sie die evasive türkische Regierungsposition, wonach der Genozid an den Armenier_innen erst noch der wissenschaftlichen Erörterung bedürfe. Zugleich wird damit auch eine juristische Qualifikation der historischen Ereignisse infrage gestellt, ungeachtet der Tatsache, dass der osmanische Genozid nach der Schoah das am intensivsten erforschteste Beispiel von Völkermord im 20. Jahrhundert darstellt. Auf die inneren Zusammenhänge zwischen beiden Völkermorden weist der deutsche Historiker Stefan Ihrig in seiner jüngsten Monographie „Justifying Genocide: Germany and the Armenians from Bismarck to Hitler“ (Jan. 2016) hin: Seit den 1890er Jahren bürgerte sich in Deutschland die Praxis ein, Gewalt gegen Armenier hinzunehmen und sogar als politisch notwendig zu akzeptieren. Viele deutsche Zeitgenossen betrachteten die Armenier als “orientalische Juden”.

Wie die Fülle der Quellen und internationalen Forschungsbeiträge belegt, besteht also kein grundsätzlicher Forschungsbedarf, sondern umgekehrt ein Defizit bei der Anerkennung des Genozids.

Während für die Trauer und den Schmerz der Nachfahren der Völkermordopfer bisher kein Platz im öffentlichen Raum der deutschen Hauptstadt und vieler anderer deutschen Städte vorhanden ist, können führende Organisatoren des Genozids an Armeniern und auch Griechen öffentlich geehrt und verehrt werden, namentlich auf dem Friedhof der Şehitlik („Märtyrer“-)Moschee (Berlin-Neukölln), wo sich vor dem Moscheeeingang „Ehrengräber“ für die als nationale Märtyrer verehrten Täter Cemal Azmi und Bahaeddin Şakir befinden.

Die Bundesregierung scheint die Aufarbeitung bzw. Anerkennung des osmanischen Genozids an über drei Millionen Christen dem politischen Tagesgeschäft unterordnen zu wollen. Dies halten wir für unangemessen, würdelos und auch gefährlich, weil es gegenüber der Türkei und der türkeistämmigen Gemeinschaft in Deutschland falsche Signale setzt. Zudem werden ein weiteres Mal türkische Menschenrechtler_innen, die sich für die Aufarbeitung auch der dunkelsten Seiten ihrer Geschichte einsetzen, damit im Stich gelassen. Der Genozid an den osmanischen Christen verdient denselben respektvollen Umgang wie der Holocaust, angefangen mit der Anerkennung bzw. Bewertung des Geschehenen als das Verbrechen, dem dieser Genozid in der Definition der Vereinten Nationen von Rafael Lemkin paradigmatisch zugrunde gelegt wurde.

Wir teilen die Besorgnis der armenischen Mitbürgerinnen, als auch der Bürgerinnen der Republik Armenien, dass die Anerkennung des Genozids in Deutschland tagespolitischen Erwä- gungen geopfert werden könnte. Wir appellieren umso eindringlicher an die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag und vor allem die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben und den 2015 eingeleiteten Prozess der Anerkennung weiter voranzutreiben.

Der Bundesrepublik Deutschland kommt als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches und damaligem Verbündeten des Osmanischen Reiches sowie hinnehmendem Mitwissers eine besondere Bedeutung zu. Wir hoffen, dass sich Deutschland seiner Verantwortung wenigstens nach 100 Jahren stellt.

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