Exzellenz Netschajew,

ich schreibe Ihnen als Vorsitzende einer Menschenrechtsorganisation, die sich seit zwei Jahrzehnten für die Prävention von Genozid einsetzt. Ebenso wie andere mit dieser Aufgabe befassten Organisationen registrieren wir mit großer Besorgnis die Gefährdung der indigenen armenischen Bevölkerung des Südkaukasus, insbesondere in der Region Arzach. Seit August 2022 hat das Lemkin Institute for Genocide Prevention, gefolgt von der International Association of Genocide Scholars (IAGS), wiederholt darauf hingewiesen, dass für die armenische Bevölkerung eine „erhebliche Genozidgefahr“ besteht. IAGS ist die größte Berufsvereinigung von Genozidwissenschaftlern weltweit.
Der Anlass meines Schreibens an Sie ist die Blockade der einzigen Landverbindung, die der Bevölkerung Arzachs nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Aserbaidschans im Herbst 2020 noch verblieben ist. Hunderte angeblicher Umweltschützer blockieren seit etwa einem Monat den so genannten Latschiner Korridor. Aserbaidschanische Behörden nehmen diese Blockade billigend hin und verletzen damit auch das trilaterale Waffenstillstandsabkommen, das am 9. November 2020 zwischen den Republiken Armenien und Aserbaidschan unter russischer Vermittlung geschlossen wurde.

Infolge der Blockade können 120.000 Armenier, darunter 30.000 Kinder, 20.000 Rentner und 9.000 Behinderte, das Gebiet nicht verlassen. 92 schwerkranke Menschen können nicht aus Arzach zur Behandlung nach Armenien transportiert werden. Durch die Isolierung Berg-Karabachs wurden 5.000 Menschen von ihren Angehörigen getrennt. Infolge der Blockade können keine Lebensmittel, Medikamente und Energieerzeugnisse nach Berg-Karabach gebracht werden. Selbst Grundnahrungsmittel wie Getreide und Milch werden knapp, so dass die karabacharmenischen Behörden jetzt die Rationierung von Lebensmitteln einführen mussten.

Wir schließen uns dem Appell der politischen Führung in Karabach sowie in der Republik Armenien an die internationale Öffentlichkeit an. Ministerpräsident Nikol Paschinjan und Staatsminister Ruben Vardanyan haben eine internationale humanitäre Luftbrücke nach Arzach vorgeschlagen.

Wir würden es sehr begrüßen, Exzellenz Netschajew, falls auch die russische Regierung sich tatkräftig für die schnelle Umsetzung dieser Forderung einsetzt, denn Ihr Land hat mit der Unterzeich-nung des Waffenstillstandsabkommens auch die Verantwortung für die dort lebenden Menschen übernommen. Wir bitten Sie daher inständig um Ihre Unterstützung für dieses humanitäre Ziel.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Tessa Hofmann
(Vorsitzende)