Erklärung der Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V. (AGA)

Wir begrüßen, dass sich der deutsche Gesetzgeber – wenn auch mit erheblicher zeitlicher Verzögerung – seiner Verantwortung vor der Geschichte und Gegenwart gestellt hat und sich damit, trotz schwieriger außenpolitischer Umstände, dem Beispiel von bisher 25 anderen nationalen Gesetzgebern anschließt. Deutschland trägt, wie der Bundestag bereits 2005 in einer nicht-legislativen Resolution feststellte, als wichtigster Militärverbündeter des Osmanischen Reiches Mitverantwortung für die im Ersten Weltkrieg an den im Osmanischen Reich ermordeten Christ_innen.

Der Deutsche Bundestag ist seit dem Jahr 2000 mit der Forderung der bundesdeutschen Zivilgesellschaft befasst, die osmanischen Staatsverbrechen im Sinne der UN Völkermordkonvention als Genozid zu bewerten. Eine entsprechende Petition, die auch von türkeistämmigen Vereinen und Initiativen unterstützt wurde, brachte die AGA im April 2000 in den Petitionsausschuss des Bundestags ein. Seither haben wir die geschichts- und erinnerungspolitische Debatte inner- und außerhalb des Bundestags kritisch begleitet.

Die AGA definiert sich als Menschenrechtsorganisation, deren Satzungsziel die Durchsetzung der legislativen und gesellschaftlichen Anerkennung von Genoziden darstellt, die vor Inkrafttreten der UN-Konvention verübt wurden. Diese übergreifende Aufgabenstellung unterscheidet uns von migrantischen Selbstorganisationen oder zwischenstaatlichen Lobbyorganisationen.

Wurde, im Sinne unserer Satzung, mit dem heutigen Bundestagsbeschluss unsere Aufgabe erfüllt? Wir können dies im Grundsatz bejahen, obwohl wir uns eine mutigere und präzisere Formulierung der Resolution gewünscht hätten. Unsere Vorbehalte betreffen insbesondere:

  • Der Bundestag versteckt sich hinter der Meinung Dritter, statt eine eigene Bewertung des völkerrechtlichen Charakters der an den osmanischen Christ_innen begangenen Verbrechen vorzunehmen. Wir verstehen, dass sich der Bundestag nicht als gerichtliche Instanz begreift, die darüber entscheidet, ob es sich bei den „Massakern“ und „Vertreibungen“ um einen Genozid handelt. Diese Beurteilung ist allerdings, auf der Grundlage der damaligen osmanischen Strafgesetzgebung, bereits 1919-20 durch osmanische Militärgerichte erfolgt. Immerhin „stellt der Bundestag fest“, dass 1915/6 über eine Million Armenier „planmäßig vernichtet“ wurden und dass diese Vernichtung exemplarisch für Völkermord wurde.
  • Die heute verabschiedete Resolution kennzeichnet eine betonte „Opferhierarchie“, mit den armenischen Opfern an der Spitze, gefolgt von den Opfern syrischer Denominationen bzw. aramäischsprachiger Subethnien, die namentlich aufgezählt werden: Aramäer, Assyrer, Chaldäer. Die im Zeitraum 1912-1922 über eine Million zählenden griechisch-orthodoxen Opfer können allenfalls als Bestandteil des Sammelbegriffs „andere christliche Minderheiten“ gedeutet werden. Eine solche unterschiedliche Behandlung von Opfern lehnen wir ab. Sie lässt sich nicht einmal für den Zeitraum 1915/6 aufrechterhalten.

Wir bedauern ebenfalls, dass die konservative und sozialdemokratische Regierungsspitze der heutigen Debatte und Abstimmung vollständig fernblieben.

Ob also die Bundestagsresolution, die bezeichnenderweise in den Medien überwiegend als „Armenienresolution“ und eben nicht als Völkermordanerkennung apostrophiert wird, einen wirklichen Durchbruch in der deutschen Geschichts- und Erinnerungspolitik bewirken kann, bleibt abzuwarten. Die relevanten Handlungsfelder liegen vor allem in der Förderung wissenschaftlicher Aufarbeitung, insbesondere des quantitativen und qualitativen Charakters deutscher Mitverantwortung, sowie in der schulischen und außerschulischen Unterrichtung über Völkermord. Mit Ausnahme des Bundeslandes Brandenburg hat bisher der osmanische Genozid in den Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien deutscher Bundesländer gefehlt, obwohl er – neben der Vernichtung europäischer Juden im Zweiten Weltkrieg – zu jenen Genoziden des 20. Jahrhunderts zählte, die die völkerrechtliche Definition von Genozid entscheidend geprägt haben.

Für Interviews und Nachfragen steht Ihnen die AGA-Vorsitzende Prof. Dr. Tessa Hofmann zur Verfügung unter tessa.hofmann@aga-online.org

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