Mit einem Referat ihres Bundesvorsitzenden Cem Özdemir und einer Podiumsdiskussion verdeutlichten die „Grünen“ erstmalig öffentlich ihre Position zum Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich – ohne öffentliche Beteiligung an ihrer Meinungsbildung. Wie zu befürchten war, unterscheidet sich diese Parteiansicht kaum von der Haltung, die Cem Özdemir bereits 2001 eingenommen hatte, als er in seinen Zeitungsartikeln dem Deutschen Bundestag davon abriet, eine von der Arbeitsgruppe Anerkennung eingebrachte Petition zur Verurteilung des Genozids an den Armeniern zu verabschieden. In seinem FAZ-Artikel „Langer Gang am Bosporus“ (05.04.2001) hatte Özdemir damals geschrieben: „Weder Washington oder Paris noch Berlin sind der Ort, wo die schrecklichen Ereignisse des Jahres 1915 (…) aufgearbeitet werden können. (…) von dem Vorhaben, mit erhobenem Zeigefinger auf das Land zwischen Bosporus und Ararat zu zeigen, sollten wir uns distanzieren.“ Nur die türkische Gesellschaft selbst könne die „schrecklichen Ereignisse von 1915“ bzw. ihre Vergangenheit aufarbeiten.
Zehn Jahre später findet Özdemir noch immer, dass es nicht Aufgabe der Gesetzgeber dritter Staaten sein kann, über die im Osmanischen Reich begangenen Verbrechen zu befinden. Ausführlich erinnerte er auch an die Menschenverluste, die Muslime inner- und außerhalb des Osmanischen Reiches während der Unabhängigkeitskämpfe der osmanisch beherrschten Balkanvölker erlitten hatten, ferner während der russischen Eroberung des Nord- und Südkaukasus bzw. der diversen russisch-osmanischen Kriege. Die assyrischen Mitopfer des armenischen Volkes erwähnte Özdemir hingegen nur mit einem Halbsatz. Weit über eine Million Aramäer (Westsyrer) und vor allem griechisch-orthodoxe Osmanen, die vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg Opfer von Todesmärschen, Massakern und Zwangsarbeit wurden, blieben unerwähnt.
Die ehemalige Bundesbeauftragte für Integration und Migration, und jetzige Abgeordnete Marie-Luise Beck erläuterte in ihrem Diskussionsbeitrag, warum der Bundestag in seiner umstrittenen Resolution vom 16. Juni 2005 den Begriff Völkermord vermieden habe: Um nicht antitürkischen Kräften Vorschub zu leisten und der Türkei keine Steine bei ihrer Aufnahme in die EU in den Weg zu legen. Aha.
Die Zuhörerschaft, die zumindest zu drei Vierteln aus Angehörigen der armenischen und syrisch-orthodoxen Gemeinschaften Berlins bestand, musste zu all dem den Mund halten, denn eine Aussprache mit dem Publikum hatte die Heinrich Böll-Stiftung nicht vorgesehen. Nicht einmal Journalisten durften Cem Özdemir oder den Podiumsmitgliedern Fragen stellen. Der Hauptredner Özdemir wich ihnen ohnehin durch seinen vorzeitigen Abgang („dringende politische Geschäfte“) aus. Das einzige Zugeständnis, dass die „Grünen“ auf dieser Veranstaltung an die – nicht näher bzw. erkennbar eruierten – Bedürfnisse der in Deutschland lebenden Gemeinschaften von Nachfahren der Opfer zu machen bereit sind, ist die Kontaktaufnahme zu den Kultusministerien in jenen Bundesländern, in denen „Grüne“ mitregieren – zwecks eventuellen Einschlusses des Genozids an den Armeniern in den schulischen Geschichtsunterricht.
Vorausgegangen war der Meinungsverkündigung eine nicht-öffentliche „Expertenkonferenz“ der Heinrich Böll-Stiftung, deren Teilnehmer nach nicht näher erkennbaren bzw. begründeten Kriterien eingeladen wurden. Bürgernähe bzw. demokratische Legitimierung sehen anders aus bzw. sind den „Grünen“ auf ihrem Weg in die Mitte des Establishments abhandengekommen.