Offener Brief
von Daniel Goldhagen

Seit 1945 ringen die Deutschen, deutsche Politiker eingeschlossen, mit den Verbrechen ihres Landes und ihrer Landsleute. Hauptsächlich geht es darum, sich dem brutalen Mord an sechs Millionen Juden während des Holocaust zu stellen. Diese Konfrontation mit der historischen Wahrheit, mit dem Gewissen der Nation und ihrer Menschen, mit den Überlebenden und der Notwendigkeit einer Wiedergutmachung, ist ungeheuer komplex und unbeständig, zeitigte beachtliche Erfolge und regelmäßige Mißerfolge.

Gewiß, jahrzehntelang war die Bereitschaft der Deutschen und ihrer politischen Führer nicht groß, mit dem ins Reine zu kommen, was so viele von ihnen bereitwillig getan hatten: nämlich Juden und Nichtjuden brutal zu ermorden, um in Europa ein Nazi-Imperium zu errichten. Aber die Deutschen konnten diese Tatsache weder leugnen noch sie komplett ignorieren: Die siegreichen Alliierten machten zumindest den Anschein einer ehrlichen Anerkennung der Vergangenheit und beträchtliche Entschädigungen der Opfer zur Bedingung für die Rückkehr Deutschlands in die Staatengemeinschaft. Also begannen deutsche Historiker und Zeitungen über den Holocaust zu schreiben, 1952 unterzeichnete die deutsche Regierung ein Reparationsabkommen mit Israel, und die deutschen Gerichte fingen an, wenn auch zögerlich, die Mörder anzuklagen und zu verurteilen.

Während der fünfziger und sechziger Jahre und in beträchtlichem Maß noch bis heute sind diese Maßnahmen extrem unpopulär gewesen oder haben zumindest merklichen Minderheiten innerhalb Deutschlands mißfallen. Es ist nicht leicht, sich der eigenen entsetzlichen Vergangenheit zu stellen, materielle und moralische Schulden zu begleichen und das Knie reuig zu beugen – so wie es der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt 1970 buchstäblich tat, als er auf dem Gelände des zerstörten Warschauer Ghettos auf die Knie fiel.

Und doch kamen viele Deutsche, vor allem ihre politischen Führer, in den Neunzigern langsam zu der Einsicht, daß ein wahrhaftiger Umgang mit der Geschichte und eine bestmögliche Befriedigung der Opfer – hauptsächlich immer aus pragmatischen Überlegungen heraus – Deutschland weder beschämt noch schwächt, sondern seine Stellung in der Welt stärkt und aufwertet.

Deutsche Lehren
Ich weiß das aus erster Hand. 1996 veröffentlichte ich „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“, ein Buch, das in Deutschland Furore machte und zur Folge hatte, daß sich das ganze Land einer – für viele unwillkommenen, für fast alle unangenehmen – Gewissensprüfung aussetzte. Es ging um die eine zentrale Frage des Holocaust, die deutsche Wissenschaftler begraben hatten, nämlich daß gewöhnliche Deutsche nicht vom Nazi-Regime dazu gezwungen worden waren, Juden zu ermorden, sondern es aufgrund ihres Antisemitismus im großen und ganzen bereitwillig taten. Die mediale Aufmerksamkeit für das Buch war beispiellos und ist bis heute einmalig. Es gab landesweite Debatten. Man rang mit sich. Viele nationale Apologeten wollten die Tatsachen nicht diskutiert wissen und attackierten mich scharf.

Aber eine größere Zahl von Deutschen bestand darauf, daß die Wahrheit bekannt würde und man sich ihr stellen müsse. All das wurde von den Medien in aller Welt genau beobachtet und mitgeteilt, zuweilen zeigte man sich überrascht, wie gut die Deutschen mit den schwierigen Wahrheiten umgingen, und immer bewunderte man diesen Umgang.

Sich der Diskussion zu stellen, wahrhaftig mit den historischen Verbrechen der eigenen Landsleute umzugehen und Reparationspflichten zu leisten, ist schwer, verschafft den Menschen und ihrer Nation aber ausschließlich Ansehen. Ließe sich ernsthaft behaupten, daß Deutschland, die führende europäische Nation, wohl gelittenes Mitglied der europäischen und der internationalen Gemeinschaft und von vielen als Vorbild erachtet, aufgrund seiner Wahrhaftigkeit Schaden genommen hätte? Haben Deutschlands Beziehungen zu anderen Ländern je darunter gelitten, daß Deutschland seine historischen Verbrechen bereitwillig anerkannt hat? Hat es die deutsche Wirtschaft geschwächt? Blüht die deutsche Kultur nicht mehr?

Hätte Nachkriegsdeutschland hingegen versucht, die grundlegende Wahrheit, daß das Nazi-Regime und viele Deutsche die Juden vernichten wollten, zu leugnen und zu vertuschen, wären wohl weder das europäische Projekt noch das Ansehen Deutschlands in der Welt so weit gediehen, wie sie es jeweils sind. Hätte Deutschland systematisch geleugnet, es wäre zu fortdauernden Konflikten mit Deutschlands Nachbarn und der Welt und fortwährenden Zweifeln daran gekommen, inwieweit sich die Deutschen selbst reformiert hätten. Ebenso ist anzunehmen, daß die deutsche Politik ohne die ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit weniger demokratisch und tolerant wäre, als sie das ist, und von den Nachbarn weiterhin sorgenvoll beobachtet würde.

Indem sie ihren Pflichten zur Wiedergutmachung nachgekommen sind, haben die Deutschen, ungeachtet ihrer anhaltenden Versäumnisse (zwar leugnen deutsche Historiker und Kommentatoren nie die historischen Tatsachen, neigen aber dazu, gewöhnliche Deutsche, die bereitwillig Verbrechen begangen haben, zu entlasten; außerdem ist Antisemitismus in Deutschland immer noch weit verbreitet), sich und ihre nationale Gemeinschaft im wesentlichen gereinigt.

Die erste dieser Pflichten besteht darin, die Wahrheit zu sagen, und so zu verhindern, daß den Überlebenden und ihre Angehörigen ein zweites Mal Unrecht geschieht. Die Deutschen haben verstanden, daß sie, indem sie die Wahrheit aussprechen, der Welt zeigen, daß sie mit der verbrecherischen Vergangenheit des Landes endgültig gebrochen haben. Deshalb beschämt die Wahrheit nicht, sondern schafft Freunde und Wohlwollen.

Ich spreche in Synagogen und vor jüdischen Gemeinden oft über den Holocaust, und in der Diskussion sage ich über die heutigen Deutschen beinahe immer zweierlei. Kein Land, kein Volk hat sich den Schrecken seiner Vergangenheit je perfekt gestellt, die Deutschen allerdings haben das, trotz bedeutender Rückschläge, umfassender und ehrlicher getan als irgendein anderes Volk, das ich kenne. Ebenso bestehe ich darauf, daß eine Kollektivschuld, auch und insbesondere zwischen den Generationen, begrifflich und moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Tatsächlich hat das niemand so oft, öffentlich und deutlich gesagt, in Deutschland, den Vereinigten Staaten und überall auf der Welt, wie ich. Wenn ich das einem jüdischen Publikum gegenüber vertrete, den persönlichen und gemeinschaftlichen Erben der Opfer, ernte ich unterschiedslos Applaus, Zustimmung und Anerkennung

Niemand, der nach den Verbrechen geboren wurde, darf mit Schuld belastet werden. Die Nachgeborenen aber können und sollen moralisch haftbar gemacht werden für die Unterdrückung der Wahrheit über diese Verbrechen. Und sie sollen so oft wie nötig hören, daß ihr Leugnen am Ende nur sie selbst beschädigt.

Geleugneter Völkermord
Ihr Land stellt Orhan Pamuk, Ihren weltberühmten Schriftsteller, vor Gericht, weil er sich der Tatsache stellt, daß der Völkermord an den Armeniern in der Türkei seit 90 Jahren geleugnet wird. Indem er einem Schweizer Blatt gegenüber (also nicht einmal in der Türkei!) offen gesagt hat, daß „man hier dreißigtausend Kurden und eine Million Armenier umgebracht hat und sich fast niemand außer mir traut, das zu erwähnen“, hat Pamuk ein soziales und politisches Verbot der Türkei übertreten, das wiederum von einem grotesk anti-demokratischen, die Kritik des „Türkentums“ kriminalisierenden Gesetz gestützt wird, dessen Ziel es ist, die Türken an einer ehrlichen Diskussion über den Genozid an mehr als einer Million armenischer Männer, Frauen und Kinder zu hindern, die 1915 unter dem Deckmantel des Krieges und unter dem Vorwand nationaler Sicherheit ermordet wurden. Pamuks Verbrechen besteht darin, „die türkische Identität öffentlich beleidigt“ zu haben.

Die ganze Welt sieht auf diese geschichtliche und juristische Farce. Die Unterdrückung grundlegender historischer Wahrheiten durch die türkische Regierung, das Volk und eingeschüchterte oder nationalistische Intellektuelle wird der Türkei nur größere Schwierigkeiten bereiten, da sie der Europäischen Union beizutreten und ihre undemokratische Vergangenheit hinter sich zu lassen sucht. Der Erweiterungskommissar der Europäischen Union, Ollie Rehn, hat bereits davor gewarnt: „Es ist nicht Orhan Pamuk, der vor Gericht steht… sondern die Türkei.“ Wird es nicht Zeit, daß diese historische Farce aufhört, die das Ansehen Pamuks und der Türkei gefährdet?