Der türkische Ministerpräsident Erdogan habe sich nicht bei den Armeniern entschuldigt, als er am Mittwoch den Enkeln der Opfer von 1915 sein Beileid aussprach, kommentiert Luise Sammann für den DLF. Seine Worte seien Kalkül gewesen:
Er hat sich nicht entschuldigt! Man muss das betonen, weil es zu oft in den letzten Tagen falsch verstanden wurde: Erdogan hat sich nicht bei den Armeniern entschuldigt, als er am Mittwoch den Enkeln der Opfer von 1915 sein Beileid aussprach. Die Ereignisse von damals – also auch die Vertreibung der Armenier aus dem Osmanischen Reich – seien „unmenschlich“ gewesen. Das immerhin erkannte der türkische Premier mit seiner Erklärung an.
Nur um jedoch gleich hinzuzufügen, dass damals schließlich alle gelitten hätten: Es ließe sich nicht abstreiten, so Erdogan, dass „die letzten Jahre des Osmanischen Reiches für Türken, Kurden, Araber, Armenier und Millionen weiterer osmanischer Bürger eine schwierige Zeit voller Schmerzen waren“.
Ein Schuldbekenntnis ist das nicht. Man könnte sogar sagen, das Leid der Armenier wurde mit dieser Erklärung relativiert: Opfer dürfen sie sein, aber bitte nicht mehr als alle anderen auch. Oder: armenische Opfer, ja – türkische Täter, nein. Auch sind Erdogans Worte wohl kaum ein plötzlicher Anfall von Mitleid. Sie sind Kalkül. Wenn sich das Massaker an den Armeniern im kommenden Jahr zum 100. Mal jährt, will der türkische Premier nicht als Getriebener dastehen, vor einer Weltgemeinschaft, die die Schuld der Türken größtenteils als erwiesen ansieht. Mit seiner Erklärung will er den Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Allerdings nur so weit, wie es für den eigenen Nationalstolz gerade noch verkraftbar ist. Vertretern der türkischen Rechten reichte jedoch auch das schon, um den Premierminister als Vaterlandsverräter hinzustellen. Nur die Tatsache, dass er gleichzeitig Balsam auf die türkische Seele gestrichen hatte, sorgte dafür, dass sich nicht weitere Kreise derartigen Vorwürfen anschlossen. Für einen wirklichen Durchbruch braucht es mehr
Man kann dem türkischen Premier nun vorwerfen, dass er es einfach allen recht machen wollte – und deswegen am Ende fast positionslos geblieben ist. Doch bei der unversöhnlichen Haltung, mit der er spätestens seit den Gezi-Protesten im vergangenen Sommer Minderheiten jeder Art gegenübertritt, sollte man vielleicht auch dafür schon dankbar sein. Und auch sonst ist Fairness angebracht: 99 Jahre nach den Massakern von 1915 hat mit dieser Erklärung zum ersten Mal überhaupt ein türkischer Premier öffentlich eingeräumt, dass es armenisches Leid gegeben hat. Das ist sehr wohl bemerkens- und auch lobenswert. Gleichzeitig wäre es übertrieben, nun von einem Durchbruch zu sprechen. Erdogans Worte sind, wie die Sprecherin des US-Außenministeriums wohlwollend bemerkte, ein „positiver Schritt“. Nicht mehr und nicht weniger. Für einen wirklichen Durchbruch aber braucht es mehr, viel mehr.
Einen Neuanfang in den Beziehungen zu den Armeniern fordern dieser Tage etliche Kommentatoren in türkischen Zeitungen. Verbunden mit dem Wunsch, einen Schlussstrich zu ziehen. Vergesst den Ruf nach einer Entschuldigung, vergesst das gegenseitige Aufrechnen von Opferzahlen – so der Tenor. Lasst uns gemeinsam nach vorne schauen. Doch damit würde nicht nur das Leid von Hunderttausenden zugeschüttet. Auch der Türkei wäre die Chance genommen, sich innerlich zu erneuern. Denn tatsächlich geht es bei diesem Thema nicht allein um eine Anerkennung dessen, was die Armenier durchgemacht haben. Es geht hier vor allem auch um die Türkei selbst. Es geht um die Zukunft einer Gesellschaft, die nach wie vor in der Schule eingetrichtert bekommt, der türkische Staat und sein Vorgänger, das Osmanische Reich, seien unfehlbar und unantastbar für alle Zeiten. Nur ein Schuldeingeständnis könnte diesem Lack einen Kratzer verpassen und damit Raum für neue Diskussionen, ja für eine neue Gesellschaftskultur schaffen. Eine Kultur, die nicht mehr allein auf Stärke und Nationalismus aufbaut – und damit tatsächlich reif für die Zukunft ist. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Erdogan mit seiner Erklärung getan. Am Ziel ist er damit aber noch lange nicht.