Vom 24. April bis zum 19. Mai 1915 erfolgte in allen osmanischen Städten die Festnahme, Folter und anschließende Tötung der Würdenträger und Intellektuellen, der Ärzte, Apotheker, Lehrer, Journalisten und Schriftsteller, kurz des gesamten gebildeten Standes der armenischen Bevölkerung. Allein in der osmanisch-türkischen Hauptstadt Konstantinopel, einem Zentrum armenischen Geisteslebens seit dem Frühmittelalter, ließ das nationalistische Kriegsregime der Ittihat ve Terakki alias „Jungtürken“ 2.345 Armenier verhaften, wie es in einer amtlichen Verlautbarung vom 24. Mai 1915 hieß. Der für die Massenfestnahmen verantwortliche Innenminister Talaat rechtfertigte sie gegenüber der deutschen Botschaft als Vorbeugung etwaiger Unruhen für den Fall eines ungünstigen Kriegsverlaufs. Doch die in die Kleinstadt Çankiri oder in das Dorf Aya? bei Ankara verschleppten Armenier aus Konstantinopel wurden nicht als Internierte behandelt, sondern wie Verbrecher und Hochverräter, auch wenn gerichtliche Untersuchungen keine Schuldbeweise erbrachten. Die meisten Verschleppten starben unter der Folter oder wurden unterwegs ermordet, darunter auch die beiden ehemaligen armenischen Parlamentsabgeordneten Grigor Sohrab und Wardges Serenguljan. Die namhaften Dichter Daniel Waruschan und Siamanto ließ der jungtürkische Funktionär Cemal Oguz im August 1915 ermorden.

Die Ermordung der armenischen Intellektuellen kam der Enthauptung der armenischen Nation gleich und lebt im historischen Kollektivgedächtnis der Armenier als schreckliches Fanal für die unmittelbar folgenden Todesmärsche der übrigen Bevölkerung. Die Kaiserlich-Deutsche Botschaft zu Konstantinopel schätzte bereits am 4. Oktober 1916, dass von den 2,5 Millionen armenischer Vorkriegsbevölkerung anderthalb Millionen gestorben waren, davon etwa die Hälfte bei Massakern und die übrigen während der Todesmärsche oder in den Wüstengebieten Nordsyriens und Nordiraks, die im jungtürkischen Amtszynismus als „Ansiedlungsgebiet“ bezeichnet wurden. In nur 18 Monaten starben mithin knapp zwei Drittel der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich. Und doch bildet dieser staatlich geplante und gelenkte Massenmord nur den bekanntesten Aspekt eines umfassenderen Vorhabens, nämlich der Festigung des in seinem Bestand bröckelnden osmanischen Vielvölkerstaates durch dessen Umwandlung in einen ethnisch einheitlichen türkischen Nationalstaat. Zu diesem Zweck sollten alle nichttürkischen Ethnien zersiedelt und assimiliert, im Bedarfsfall auch vernichtet werden. Von den etwa fünf Millionen Christen, die vor dem Ersten Weltkrieg in den Grenzen der heutigen Türkei lebten, kamen im Zeitraum 1912 bis 1922 drei Millionen bei Massakern und Todesmärschen um: außer Armeniern auch Aramäer/Assyrer sowie die griechische Bevölkerung Kleinasiens und Ost-Thrakiens.

Versuche, auf nationaler oder internationaler Ebene nach Ende des Ersten Weltkriegs dieses Staatsverbrechen juristisch zu ahnden, scheiterten weitgehend. Zur Macht gelangt, verhinderte die Nationalistenregierung unter Mustafa Kemal eine Fortsetzung der Militärgerichtsverfahren gegen führende Jungtürken, gewährte Funktionären und Parteiführern in ihrem Machtbereich Zuflucht und verlieh ihnen sogar Ministerposten. Die personelle, organisatorische und teilweise ideologische Kontinuität zwischen dem Jungtürkentum und dem kemalistischen Nationalismus bildet die Hauptursache dafür, warum sich die politische Führung der Republik Türkei mit der Aufarbeitung der kriminellen türkischen Zeitgeschichte schwer tut. Statt Distanzierung von dem Regime rechtfertigte man den Massenmord und ließ ihn später in Vergessenheit geraten, um ihn in einer dritten Phase zu leugnen.

Die von Elie Wiesel als zweite Tötung bezeichnete Leugnung von Völkermord schmerzt überlebende Opfer und ihre Nachfahren besonders. Seit Jahrzehnten warten die im Exil verstreute armenische Diaspora und die Bevölkerung des vom armenischen Siedlungsgebiet verbliebenen Landes Armenien auf eine Geste der Reue und des Bedauerns seitens der offiziellen Türkei – bisher vergeblich.

Denn selbst als Beitrittskandidatin zur Europäischen Union ist die Türkei von einem solchen Schritt weit entfernt und bestreitet hartnäckig die historische Realität des Völkermordes. Ihre meinungsbildenden und pädagogischen Einrichtungen – die Medien sowie das nationale Bildungswesen – versagen vor der Aufgabe, die jahrzehntelang aufgebaute emotionale Identifizierung mit den chauvinistisch motivierten Verbrechen zu beenden, die an der Wende vom osmanischen Vielvölkerstaat zum türkischen Nationalstaat an der christlichen Bevölkerung begangen wurden. Türkische Bürger, die es wagen, an die im Namen der türkischen Nation und des Patriotismus begangenen Verbrechen zu erinnern, werden bis in die Gegenwart strafrechtlich verfolgt und von der überwältigenden Mehrheit der Medien straflos als Verräter und Nestbeschmutzer diffamiert. Mit Artikel 305 des novellierten Strafgesetzbuches schuf die Türkei 2004 ein weiteres Instrument zur Verfolgung jener, die das offizielle historische Deutungsmonopol der türkischen Nationalisten infrage stellen und öffentlich den Völkermord an den Armeniern erwähnen. Damit werden Grund- und Menschenrechte wie die Freiheit des Gewissens, der Rede, Meinung und Forschung in der Türkei elementar verletzt. Der Fall des international prominenten Schriftstellers Orhan Pamuk zeigt uns in diesen Tagen, wie sehr die offizielle Türkei und große Teile der türkischen Gesellschaft mit nationalistischem Fanatismus und aggressionsbereit auf Intellektuelle reagieren, die es wagen, den Völkermord an den Armeniern oder an anderen Ethnien auch nur zu erwähnen. In einem Staat, wo Hitlers „Mein Kampf“ die Bestsellerliste anführt und zur bevorzugten Lektüre von Polizeischülern gehört, erstaunt es freilich nicht, dass auch öffentliche Bücherverbrennungen in Gegenwart von Parlamentsabgeordneten zur „Abrechnung“ mit dissidenten Intellektuellen wie O. Pamuk gehören. In der türkischen Diaspora Europas lässt sich in diesen Tagen sogar ein Rückschlag feststellen: Am 15. Mai 2005 ehrten die fünf größten türkischen Organisationen in Deutschland den für die Vernichtung der Armenier politisch Hauptverantwortlichen, Mehmet Ali Talaat. Er war am 5. Juli 1919 in seiner Heimat in Abwesenheit von einem Militärsondergericht zum Tode verurteilt worden und wurde 1920 in Berlin von einem armenischen Rächer erschossen.

Die Europäische Union kann nicht länger die Augen vor den Auswüchsen des türkischen Nationalismus verschließen. Energischer als bisher muss sie die Türkei für krasse Rechtsverletzungen abmahnen, gleichzeitig aber auch jene zivilgesellschaftlichen und menschenrechtlichen Strukturen fördern, die geeignet sind, der nationalistischen Erstarrung und dem Kult an gerichtlich verurteilten Massenmördern ein Ende zu setzen.

Eine besondere Verantwortung kommt hierbei Deutschland zu, aus mehreren Gründen. Hier besteht seit Jahrzehnten die größte türkischsprachige Diasporagemeinschaft. Zumindest in deutschen Schulen sollten ihre Jugendlichen die Wahrheit über den im Ersten Weltkrieg begangenen Genozid an Armeniern und Aramäern/Assyrern erfahren und in einem Geist erzogen werden, der die Identifizierung mit den Tätern ausschließt. Dafür sind geeignete Lehr- und Unterrichtsformen zu entwickeln, die auch die Erwachsenenbildung mit einschließen. Hinsichtlich der Aufarbeitung bzw. Leugnung von Völkermord besitzt Deutschland eine widersprüchliche Erfahrung: Es hat, anfänglich unter dem Druck der Sieger des Zweiten Weltkrieges, ein positives Beispiel für die Aufarbeitung der Vernichtung der europäischen Juden, später auch der Sinti und Roma gegeben, aber es tut sich auch nach mehr als einhundert Jahren schwer, sich bei den Nachfahren der Opfer für den 1904 bis 1908 an den Stämmen der Herero und Nama (Namibia) begangenen Genozid zu entschuldigen.

Deutschland hat als wichtigster Verbündeter des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg den Völkermord an den Armeniern weitgehend billigend hingenommen, obwohl die zahlreich im Osmanischen Reich vertretenen Deutschen – Diplomaten, Militärberater, Missionare, Lehrer, Ingenieure – unmittelbare Augenzeugen der Gräuel wurden. Vor allem die deutschen Konsuln berichteten darüber ausführlich an ihre Botschaft und Regierung. Zugleich profitierte Deutschland vom Völkermord an den Armeniern, der wie jeder Genozid auch ein Raubzug war. Armenische Einlagen auf der Deutschen Orientbank wurden dem armenischen Volk bis heute nicht von der indirekten Rechtsnachfolgerin zurückerstattet. Ebenso wenig wurde Wiedergutmachung wie für die Tausende armenischer Zwangsarbeiter geleistet, die die osmanische Heeresführung für den Bau der Bagdadbahn zur Verfügung stellte.

Die junge Weimarer Republik hat sich anschließend schützend vor die nach Berlin geflüchteten, in ihrer Heimat strafrechtlich verfolgten und in Abwesenheit zum Tode verurteilten Jungtürken gestellt: Talaat, Dr. med. Bahaettin ?akir, Dr. med. Nazim, Cemal Azmi und Hüseyin Azmi. Türkische Auslieferungsbegehren lehnte der deutsche Außenminister Wilhelm Solf 1918 und 1919 mit dem Hinweis ab, Talaat sei ein treuer Verbündeter Deutschlands gewesen, und verhinderte so ein „türkisches Nürnberg“.

Im 90. Gedenkjahr hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als erste große Volkspartei in Deutschland eine Motion eingebracht, mit der der deutsche Gesetzgeber einen Akt des Gedenkens an die „Massaker und Vertreibungen“ vollziehen will. So begrüßenswert diese Absicht einerseits ist, so bedenklich stimmt die juristisch ungenaue Sprache der Antragsbegründung und des Antrages. Denn in diesem Text ist nicht von Genozid bzw. Völkermord die Rede, auch nicht von Vernichtung oder Ausrottung, sondern allenfalls von „Massenmord“. Damit weicht der Antrag, in dem die Türkei zur Vergangenheitsaufarbeitung aufgerufen wird, einer präzisen Aussage über die Faktizität des Genozids aus und überlässt es der Türkei, die Wahrheit über ihre jüngere Vergangenheit selbst herauszufinden. Damit weicht der CDU/CSU-Antrag erheblich zudem von der bisherigen Praxis parlamentarischer Beschlüsse zur „Anerkennung“ des Völkermordes an den Armeniern entsprechend der UN-Genozidkonvention ab. 16 nationale Gesetzgeber (Parlamente) haben seit 1965 in Beschlüssen oder Gesetzen die historische Faktizität des Völkermordes an den Armeniern bestätigt.

Es ist nun Aufgabe der deutschen Öffentlichkeit, insbesondere auch der menschenrechtlichen Organisationen Deutschlands, auf eine Verbesserung hinzuarbeiten. 90 Jahre danach muss der deutsche Gesetzgeber zu einer klaren Stellungnahme in der Lage sein, insbesondere, wenn er seine Kollegen in der Republik Türkei zur Vergangenheitsaufarbeitung aufrufen will.

Mitglieder der Arbeitsgruppe Anerkennung und ihres Vorstandes werden unsere Solidarität mit den Opfern und ihren Nachfahren durch Teilnahme an den diesjährigen Trauerzeremonien in Armenien zum Ausdruck bringen und dort auf internationalen Konferenzen gemeinsam mit Menschenrechtskollegen und Wissenschaftlern aus zahlreichen Staaten über Fragen der Genozidbekämpfung und -erziehung beraten. Sie werden in ihr Gedenken auch die Opfer von Aramäern/Assyrern einschließen, indem sie vor dem assyrischen Mahnmal im Dorf Arsni (Armenien) ebenfalls einen Kranz niederlegen.

Für den Vorstand der Arbeitsgruppe Anerkennung
Dr. Tessa Hofmann
Berlin, den 13. April 2005