Zwei Ereignisse stehen bevor: im September diesen Jahres die Bundestagswahl, und am 24. April 2015 das Gedenken an den Beginn der Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich, der mit der massenhafte Festnahme der Elite einsetzte.

Je nach Anlass und Betrachtung sind einhundert Jahre eine lange oder kurze Zeit. Sie sind eine kurze Spanne gemessen an den weiterhin verweigerten politisch-rechtlichen Verpflichtungen des türkisch-republikanischen Nachfolgestaats des Osmanischen Reiches. Einhundert Jahre sind jedoch eine lange Zeit mit Blick auf die Zeitzeugen und Überlebenden. Nach vier Generationen bzw. einhundert Jahren überschreitet jedes Ereignis die persönliche Erfahrung und gewinnt historische, überpersönliche Bedeutung. Der Völkermord von 1915/16 ist zum integralen Bestandteil des kollektiven armenischen Gedächtnisses geworden, unabhängig vom Schicksal einzelner Familien.

Diese Wandlung erfordert eine Bilanz. Welche Schlussfolgerungen ziehen wir aus den vorausgegangenen Jahrzehnten? Die Antworten können nur differenziert ausfallen.

Viele Überlebende haben lebenslang vergeblich auf Gerechtigkeit gehofft. „Haj Dat“ – das „armenische Gericht“ über die Verantwortlichen für millionenfachen Massenmord, Enteignung und Heimatverlust – hat nur ansatzweise stattgefunden. Es wäre Selbstbetrug, falls wir die osmanischen Militärgerichtsurteile zu einer umfassenden juristischen Bewältigung erklärten. Dazu waren die Motive und Umstände, unter denen diese Prozesse stattfanden, zu ambivalent. Die so genannten Unionisten-Prozesse der Jahre 1919 und 1920 zeigten vor allem, dass es mit den Mitteln nationaler Gerichtsbarkeit schier unmöglich ist, die Verbrechen einer Vorgängerregierung zu ahnden. Zumal die konkurrierende Nationalistenregierung unter Mustafa Kemal die Militärgerichtsurteile schon bald kassierte und den Völkermördern Zuflucht und teilweise sogar Karrieren ermöglichte. Ein internationaler Strafgerichtshof kam erst gar nicht zustande, trotz der gegenteiligen Ankündigung Großbritanniens, Frankreichs und Russlands vom 24. Mai 1919. (1)

Das postsowjetische Armenien hat sich 2004 mit der Entscheidung seines Verfassungsgerichts, das Römer Statut (1998) nicht zu ratifizieren, selbst der Möglichkeit beraubt, den Internationalen Strafgerichtshof anzurufen, dessen damaliger Hauptankläger L. Moreno Ocampo im April 2010 eine derartige Möglichkeit im Fall einer Ratifizierung grundsätzlich in Aussicht gestellt hatte.

Als Ersatz für die nicht stattgefundene Verurteilung des osmanischen Genozids durch ein internationales Strafgericht erfolgten seit 1965, beginnend mit Uruguay, so genannte Anerkennungen durch nationale Gesetzgeber. Seither haben 21 nationale Gesetzgeber die Vernichtung der Armenier in Resolutionen, Beschlüssen oder Gesetzen als Genozid entsprechend der UN-Völkermordkonvention von 1948 bewertet. Das entspricht allerdings nur etwa einem Zehntel der existierenden 206 Staaten oder Staatsgebilde (davon 193 Mitglieder der UNO). Und nur drei der „Anerkenner“-Staaten haben ihren Beschlüssen Gesetzeskraft verliehen (Argentinien, Frankreich, Uruguay). Durch nationale Gesetzgeber ausgesprochene „Anerkennungen“ von Genoziden bilden mithin einen erinnerungspolitisch wichtigen Akt, der jedoch ohne rechtliche Konsequenzen bleibt und daher eher der Symbolpolitik zuzuordnen ist.

Deutschland hat sich in seiner Resolution vom 16.06.2005 nicht einmal zur Symbolpolitik aufraffen können. Wohl hat es seinen eigenen Anteil an der Verantwortung für die „Deportationen und Massaker“ von 1915 betont, es im Übrigen aber stets vermieden, eine juristisch qualifizierte Stellungnahme vorzunehmen. Dies gilt es bis zum Jahr 2015 nachzubessern. Wir fordern diese Nachbesserung schon jetzt, im Wahljahr 2013 ein! Unsere Entscheidungen an der Wahlurne sollten wir auch von der Erfüllung erinnerungspolitischer Essentials abhängig machen:

  • eine juristische qualifizierte Anerkennung des osmanischen Genozids durch den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung,
  • die Bestrafung von Völkermordleugnung durch Erweiterung des Strafrechtsartikels 130b („Volkshetze“)
  • der Einschluss des osmanischen Genozids in die schulische und außerschulische Bildung über Völkermord.
  • Unterstützung bei der Errichtung von öffentlichen Gedenkstätten in Städten mit historischem oder aktuellem Bezug zur armenisch-deutschen Geschichte oder mit großen armenischen Gemeinden.

Die Antworten bzw. Nicht-Antworten der im Bundestag vertretenen Parteien auf diese Forderungen werden wir auf unserer Webseite veröffentlichen.

Wir wollen nicht die Erfolge der jahrzehntelangen Bemühungen um die Anerkennung des Genozids an den Armeniern vergessen. Diese Erfolge liegen vor allem im wissenschaftlichen und publizistischen Bereich. Nach der Schoah gehört der Völkermord an den Armeniern inzwischen zu den wissenschaftlich am häufigsten und intensivsten erforschten Beispielen von Genozid im 20. Jahrhundert. Die Behauptung der Heinrich Böll-Stiftung, dass die „historische Aufarbeitung der Ereignisse, ihrer Vorgeschichte und Kontexte“ noch immer „in den Anfängen“ (2) stecke, erweist sich vor diesem Hintergrund entweder als unentschuldbare Ignoranz, oder ebenso unentschuldbare wissentliche Wiederholung türkischer Zweckpropaganda.

Besonders bemerkenswert erscheinen uns die zahlreichen verlegerischen Leistungen, die in der Türkei erbracht wurden, beginnend mit dem Istanbuler Belge-Verlag. Sie sind ein bedeutendes Zeugnis für die wachsende zivilgesellschaftliche Bewegung zur Aufarbeitung der offiziell noch immer tabuisierten oder entstellten Nationalgeschichte des Landes und seiner staats-kriminellen Aspekte. Übersetzer, Verleger und Publizisten der Türkei verdienen unseren tiefen Respekt für ihren staatsbürgerlichen Mut, weil sie trotz repressiver Gesetzeslage dem noch immer weit verbreiteten nationalistischen Geschichts-Narrativ einen Großteil der internationalen Forschungsliteratur in türkischer Sprache entgegengesetzt haben. Zugleich hat in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten auch in der Türkei eine ernsthafte und eigenständige wissenschaftliche Auseinandersetzung begonnen, der wichtige Erkenntnisse über die Vernichtungsmechanismen im Zuge des türkischen Nationalstaatsbildungsprozesses zu verdanken sind. Doch ohne Unterstützung von außen wird es der türkischen Menschenrechtlern, Wissenschaftlern und Publizisten schwer fallen, der anhaltenden offiziellen Leugnung oder Bagatellisierung des spätosmanischen Genozids an Christen zu begegnen. Das höchste „Angebot“, das die seit zehn Jahren regierende AKP erinnerungspolitisch Armenien und der weltweiten armenischen Gemeinschaft bisher zu bieten hatte, gipfelte in dem basarhaften Vorschlag zur wechselseitigen „Verrechnung“ historischen „Leids“ (3) bzw. historischer Gewalterfahrungen: das Leid der genozidal ausgemordeten Armenier gegen das Leid der muslimischen Flüchtlinge vom Balkan und aus dem Nordkaukasus.

Wo stehen wir also 98 Jahre nach dem Genozid und nur zwei Jahre vor dem 100-Jahres-Gedenken? Oder anders formuliert: Kann ein Staat Millionen seiner Bürger unter unsäglichen Qualen und Demütigungen vernichten und sich darauf verlassen, dass diese Verbrechen keine wie auch immer gearteten juristischen, politischen oder moralischen Konsequenzen besitzen werden?

Wir wollen uns nicht mit Symbolpolitik abspeisen lassen und uns nicht selbst betrügen. Doch wir können immerhin heute schon mit Gewissheit feststellen, dass es in den meisten Staaten Europas, in den beiden Amerikas sowie in Australien gelungen ist, den Genozid an den Armeniern in die allgemeine und insbesondere in die wissenschaftliche Kenntnis über staatliche Schwerverbrechen zu integrieren. Dies entspricht der universellen Bedeutung, die dieser Völkermord als eine der empirischen Grundlagen der UN-Genozidkonvention dauerhaft besitzt.

Downloads:

(1) Vgl. den Wortlaut auf http://www.armenian-genocide.org/Affirmation.160/current_category.7/affirmation_detail.html
(2) Aus einer Einladung für eine Podiumsdiskussion und Ausstellungseröffnung am 27.03.2013, organisiert von der Heinrich Böll-Stiftung
(3) Vgl. Außenminister Davutoğlu: „Davutoğlu: We do not deny the Armenians‘ grief”. “Tert.am”, 08.07.12, http://www.tert.am/en/news/2012/07/08/davutoglu-genocide/