Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023, bei dem Kämpfer der in vielen Staaten als Terrorgruppe gelisteten palästinensischen Organisation und ihre Anhänger ein Massaker an etwa 1.200 Menschen in Israel begingen und über 250 Menschen unterschiedlicher Staatszugehörigkeit verschleppten (von denen weiterhin über 100 in der Gewalt der Hamas sind, einschließlich Leichen).  und der anschließende Angriff Israels auf die Hamas im Gaza-Streifen haben eine bis heute anhaltende heftige und polarisierende internationale Debatte über die Vorgehensweise beider Seiten und ihre strafrechtliche Bewertung ausgelöst.

An mich wurde verschiedentlich die Frage gerichtet, wie ich als Genozidwissenschaftlerin das Vorgehen  der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) beurteile. Mein Forschungsschwerpunkt lag bisher auf armenischer Geschichte und Gegenwart; in der Genozidforschung lag er auf dem osmanischen Genozid (1912-1922) an Christen sowie auf den genozidalen Handlungen Aserbaidschans gegen die De Facto-Republik Berg-Karabach (ab 2014: Arzach). Dort wurde von Dezember 2022 bis zum 19. September 2023 das verbliebene Gebiet dieser Republik durch Aserbaidschan abgeriegelt und die Zufuhr von Lebensmitteln und Medikamenten zunehmend erschwert. Der Internationale Gerichtshof (IGH) forderte 2023 Aserbaidschan zweifach auf, seine Blockade aufzuheben, ohne Erfolg. Der ehemalige und erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Dr. iur. Luis Moreno Ocampo, bewertete im August und Dezember 2023 in zwei Gutachten die Blockade durch Aserbaidschan sowie die anschließende Vertreibung der Bevölkerung als Genozid entsprechend Art. IIc  der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord.

Legt man diese Kriterien an das Vorgehen der IDF in Gaza an, ergibt sich der Schluss, dass dort ebenfalls der Bevölkerung der Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Arzneimitteln zumindest zeitweilig verwehrt und die Bevölkerung bei vorgeblichen Evakuierungen mehrfach vertrieben wurde. Als Kriegsverbrechen wären die Beschießung von Wohngebieten, Schulen sowie Krankenhäusern zu werten. Für die Bewertung als Genozid ist außerdem der Nachweis der Vorsätzlichkeit von zentraler Bedeutung. Der IStGH stufte 2024 die in Gaza begangenen Verbrechen jedoch nicht als Genozid ein, sondern als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit bzw. Menschlichkeit (crimes against humanity).

Schon am 20. Mai 2024 hatte der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant beantragt. Am 21. November 2024 verkündete die Vorverfahrenskammer I des IStGH ihre Entscheidung, worauf die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant sowie gegen den inzwischen mutmaßlich von Israel bei einem Bombenangriff getöteten Hamas-Militärchef Mohammad al-Masri (Deif) erlassen wurden. Netanjahu und Gallant werden Verbrechen gegen die Menschheit sowie Kriegsverbrechen nach Art. 7 bzw. 8 des Römischen Status des IStGH im Gaza-Krieg vorgeworfen,  Deif unter anderem Folter, vorsätzliche Tötungen, Ausrottung, Vergewaltigung und Mord.

Ein Hauptaugenmerk legte die Vorverfahrenskammer auf die katastrophale humanitäre Situation in Gaza, für die Netanjahu und Gallant mitverantwortlich seien. Ein zentraler Vorwurf ist hier das vorsätzliche Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung, das ein Kriegsverbrechen nach Art. 8 Abs. 2 b) des Römer Statuts darstellt.

Es gebe hinreichende Gründe für die Annahme, dass Netanjahu und Gallant „absichtlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben einschließlich Nahrung, Wasser sowie Medikamente und medizinische Hilfsmittel sowie Brennstoffe und Strom vorenthalten haben“, heißt es in der Pressemittelung des Gerichtshofs. Humanitäre Organisationen seien nicht mehr in der Lage gewesen, die Bevölkerung ausreichend zu versorgen. Durch die Unterbrechung der Stromversorgung und die Reduzierung der Treibstofflieferungen hätten auch die Krankenhäuser nicht mehr die notwendige medizinische Versorgung leisten können.[1]

Trotz der Appelle mehrerer Staaten, des UN-Sicherheitsrats, des UN-Generalsekretärs sowie von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sei nur ein Minimum an humanitärer Hilfe genehmigt worden. Für diese Beschränkungen gebe es keine Rechtfertigung, weder aus militärischen noch aus anderen Gründen.

Ein weiterer Vorwurf betrifft Verbrechen gegen die Menschheit nach Art. 7 des Römer Statuts durch vorsätzliche Tötungen, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen. Der Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Elektrizität und Treibstoff sowie an bestimmten medizinischen Hilfsgütern habe zum Tod von Zivilisten, einschließlich Kindern, aufgrund von Unterernährung und Dehydrierung geführt.

Durch die unzureichende Versorgung mit medizinischen Gütern hätten Patienten – auch Kinder – teilweise ohne Betäubung operiert werden müssen, oder es seien ungeeignete Mittel zur Sedierung verwendet worden, was zu extremen Schmerzen und Leiden geführt habe.

Nach Art. 7 des Römer Statuts ist der Vorwurf von Verbrechen gegen die Menschheit – neben der Erfüllung einer oder mehrerer Tatbestandsalternativen – noch an weitere Voraussetzungen geknüpft: Die Handlungen müssen im Rahmen eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ und in Kenntnis dieses Angriffs begangen worden sein. Auch dies nahm die Kammer als gegeben an.

Anders als Chefankläger Khan nahm die Kammer dagegen das Verbrechen der Ausrottung, das ebenfalls ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt, nicht als gegeben an. Ausrottung (extermination) umfasst nach der Definition in Art. 7 Abs. 2 b) des Römer Statuts die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen – unter anderem das Vorenthalten des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Medikamenten –, „die geeignet sind, die Vernichtung eines Teiles der Bevölkerung herbeizuführen“. Auf der Grundlage des von der Anklagebehörde vorgelegten Materials, das den Zeitraum bis zum 20. Mai 2024 abdeckt, habe die Kammer das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale nicht feststellen können, heißt es in der Pressemitteilung.

Israel, das selbst kein Vertragsstaat des IStGH ist, hatte unter anderem die Zuständigkeit des IStGH für die Verfahren angezweifelt. Die Vorverfahrenskammer I des IStGH hatte im Februar 2021 ihre Zuständigkeit für die seit 1967 besetzten Gebiete wie das Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalems und des Gaza-Streifens festgestellt. Damit unterfallen Taten, die auf palästinensischem Territorium begangen wurden – auch solche von israelischen Staatsangehörigen – der Gerichtsbarkeit des IStGH.

Die Vorverfahrenskammer ist u.a. dafür zuständig, Haftbefehle zu erlassen und jede Anklagerhebung zu bestätigen. Dafür prüft sie das Beweismaterial, bevor es tatsächlich zu einer Anklage kommt.[2]

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Als Menschenrechtlerin sehe ich im universalen Menschen- und Völkerrecht einen herausragenden und zu verteidigenden Fortschritt und stehe hinter den bisherigen Beschlüssen des IStGH. Als Richtlinie meines menschenrechtlichen Handelns gilt im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Palästinensern und Israel: Das Existenzrecht Israels und sein Recht auf Selbstverteidigung im Rahmen des Kriegs- und Völkerrechts bilden unabdingbare Selbstverständlichkeiten. Ebenso selbstverständlich ist für mich, Menschenrechtsverletzungen wahrzunehmen und anzumahnen, von welcher Seite auch immer sie verübt werden.

Besonders kritikwürdig erscheint die Politik Netanjahus und seiner ultrarechten Regierungskoalition, nicht nur im Hinblick auf das Verhältnis zu den Palästinensern in Gaza, im Westjordanland und in Israel, sondern auch für die Demokratie und Innenpolitik Israels. Diese Politik treibt zu Recht zahlreiche Bürger:innen des Landes auf die Straßen, darunter viele Angehörige der von der Hamas gefangen gehaltenen Geiseln. Höchst fragwürdig war auch die Nichtzurkenntnisnahme früher Warnungen des israelischen Geheimdienstes vor terroristischen Anschlägen. Es gibt also noch viel Aufklärungsbedarf, bevor endgültige Aussagen getroffen werden können.

Tessa Hofmann

(Vorsitzende der Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V.

[1] https://www.icc-cpi.int/news/situation-state-palestine-icc-pre-trial-chamber-i-rejects-state-israels-challenges

[2] Kring, Franziska: IStGH zum Gaza-Krieg. In: Legal Tribune Online, 21.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55929 (abgerufen am: 13.04.2025 )