Unglaublich, aber in der Türkei kein Einzelfall: Auch Tote müssen sich für Beleidigung des Türkentums verantworten. So erging es posthum der ersten und einzigen türkischen Verlegerin und Menschenrechtlerin Ayşe Nur Zarakolu im Jahr 2000, so erging es heute dem am 19. Januar 2007 ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink. Es wurde gegen ihn weiterverhandelt.

Der Slogan „Wir sind alle Hrant Dink, wir sind Armenier!“ auf den Spontankundgebungen vom 19. Januar 2007 wurde von vielen Menschen inner- und außerhalb der Türkei aufgegriffen. Aber er blieb nicht lange unwidersprochen. Extremistische Nationalisten setzten ihm bald die Parole „Wir sind Türken, wir sind Mustafa Kemal!“ entgegen. Gleich nach der Beerdigung Hrant Dinks riefen die rechtsextremistische Parteien MHP und BBP zum Protest gegen die Solidarisierung mit dem Mordopfern auf; inzwischen haben sich die Reihen wie gewohnt wieder geschlossen: Fast sämtliche Parteien verurteilen, mit Rücksicht auf die Wählergunst bei den im Mai 2007 bevorstehenden Präsidentenwahlen, den Slogan „Wir sind alle Hrant Dink!“

Das Mordopfer war noch nicht beerdigt, da spekulierten manche Wortführer und Kommentatoren in der Türkei bereits öffentlich darüber, ob nicht Armenier selbst hinter dem Anschlag steckten; der angeblich armenische Familienname des angeblich minderjährigen Auftragstäters Ogün Samast – angeblich in der Bedeutung „Synagogenwächter“ – diente als Beweis. Was die Polizei in Trabzon nicht daran hinderte, stolz mit dem Festgenommenen vor der Nationalflagge zu posieren. Es gehört zu den Denkschablonen türkischer Nationalisten, den Opfern die Schuld zuzuweisen, seit den Zeiten Abdülhamits II.

Zugleich geht der Terror gegen liberale Journalisten weiter. Der erste und bisher einzige Nobelpreisträger der Republik Türkei, Orhan Pamuk, wurde endgültig ins Exil gedrängt und sagte Reisen nach Brüssel und Berlin ab, wo ihm jeweils die Ehrendoktorwürde verliehen werden sollte. Der Menschenrechtsverein der Türkei (IHD) berichtet von der Verschleppung des Vorsitzenden des Kulturinstituts BEKSAV, Haci Orman, in Istanbul, der nur durch den Protest der Demokraten nach zwei Tagen freikam. Das neue Antiterrorismusgesetz der Türkei wird bei solchen Aktionen gern verwendet. Bereits Ende 2006 hatte der IHD die Namen von 22 linksorientierten oppositionellen JournalistInnen bekannt gegeben, die sich in Isolationshaft befinden.

Besonders besorgniserregend ist die Rücksichtnahme der Regierung auf die nationalistisch geprägte öffentliche Mehrheitsmeinung. Zwar wurden inzwischen vier Beamte, darunter der Geheimdienstchef in Istanbul, von Dienst suspendiert sowie vier weitere strafversetzt. Doch Regierungschef Erdoğan weigerte sich bisher mit Rücksicht auf kurdischstämmige Wähler, Innenminister Abdülkadir Aksu seines Amtes zu entheben. Ebenso wird die Streichung des Strafrechtsartikels 301 weiterhin verschleppt. Auch der deutsche EU-Parlamentspräsident Pöttering (CDU) spricht nur von einer Novellierung des Knebelparagraphen.

Wir veröffentlichen nachstehend die englische Übersetzung eines Beitrages von Dr. Taner Akçam aus der liberalen Zeitung Radikal vom 24. Januar 2007, der auch als Kommentar zu den Stichworten „Dialog“ und „Polarisierung“ verstanden werden kann.

Downloads: