In einem Interview schildert die Anwältin der Familie Dink ausführlich und kritisch die Schwierigkeiten im Strafverfahren gegen Ogün Samast und seine Auftraggeber: den Ermittlern vorenthaltene Informationen, verschwundene oder manipulierte Beweisstücke und vieles andere mehr. Das schon ein Jahr im Voraus geplante Attentat gegen Hrant Dink war dem Gendarmerie-Nachrichtendienst in Pelitli in allen Einzelheiten bekannt, denn die Auftraggeber Samasts wurden abgehört und observiert. Aber die Verantwortlichen ließen den Mord geschehen.

  • Alles ist der Polizei und der Gendarmerie bekannt, sogar bis zum Wissen darüber, dass Hrant vor der Redaktion seiner Zeitung durch einen Genickschuss getroffen werden wird.
  • Die Ermittlungen sind an einem Punkt stecken geblieben. Ab diesem Punkt verlor die politische Instanz ihre konsequente Haltung.
  • Wir haben jetzt einen guten Anlass dafür, dass sich die Türkei von der Atmosphäre befreit, in der sie sich befindet.

Müjgan Arpat:

Die Minderheiten sind keine echten Bürger

Es gibt kaum jemanden, der die Rechtsanwältin Fethiye Çetin nicht kennt. Ehemaliges Mitglied der Minderheitenkommission an der Istanbuler Anwaltskammer, Schriftstellerin des Romans „Meine Großmutter“, in der die Menschen, die in Unkenntnis des Genozids an Armenier sind, durch die Erzählung über ihre Großmutter Heranuş armenisch: Hranusch in ihrem Gewissen berührt werden: Anwältin in den Verhandlungen über den Mord an Hrant Dink sowie der Zeitung AGOS: seit Jahren viel gefragte Anwältin von Festgenommenen.

Dieses Interview entstand zwischen Tür und Angel, als Fethiye Çetin zur Verhandlung von ermordeten Christen nach Malatya eilte.

Die Verhandlung über die Ermordung Hrant Dinks scheint sich augenblicklich ausschließlich auf die Schützen konzentriert zu haben. Warum kann man die eigentlichen Täter nicht erreichen?

In den Ermittlungen zu diesem Mord gibt es einige offene, nicht aufgeklärte Punkte. Eigentlich sind es genau die Punkte, wo Ermittlung gezielt ansetzen könnte, aber diese sind gänzlich außer Acht gelassen worden. Jeder dieser Punkte berührt eine staatliche oder öffentliche Instanz oder aber hat etwas mit einer politischen Partei zu tun. Worum geht es dabei? Zum Beispiel ist der Ort, an dem der Mord geplant wurde, Pelitli. Hier gibt es einen Berührungspunkt mit der Gendarmerie (In der Türkei ist außerhalb der Städte nicht die Polizei, sondern die Gendarmerie für die Sicherheit verantwortlich). Außerdem handelt es sich bei dem Hauptangeklagten dieser Verhandlung um einen Sicherheitsagenten und bei seinem Helfer um ein Mitglied der Staatsermittlungsbehörde. Also gibt es auch einen Berührungspunkt mit der Sicherheitsbehörde. Zudem stehen fast alle Angeklagte des Prozesses in Verbindung zur Partei der Großen Einheit Büyük Birlik Partisi; BBP sowie zu der nationalen Jugendorganisation Alperen Ocakları. Also gibt es auch solche Berührungspunkte. Soweit wir sehen können, sind diese Punkte nicht ermittelt worden.

Welchen Umfang hat die Berührung mit der Gendarmerie?

Man kann die Aufgaben der Gendarmerie sowie anderer Bereiche in zwei Punkten zusammenfassen: Erstens die vorbeugenden und schützenden Aufgaben, also die Gewährleistung des Schutzes des Lebens sowie des Besitzes von Personen und die Gewährleistung vorbeugender Maßnahmen. Deshalb werden Aufklärungsinstanzen geschaffen. Die Gendarmerie besitzt dort ebenfalls eine Aufklärungsinstanz: JITEM Jandarma İstihbarat ve Terörle Mücadele – Nachrichtendienst und Terrorabwehr der Gendarmerie, gleichzeitig Kampfeinheit.

Der Gendarmeriebezirk Pelitli hat eine sehr zentrale Hauptstraße. Fast alle Orte, die in diesem Prozess erwähnt werden, befinden sich dort. So befinden sich alle Orte, in denen sich die Angeklagten versammelten und miteinander kommunizierten, die Internetcafés, andere Cafés, lokaler Sportverein Pelitli Spor, das Gendarmeriegebäude, alle am selben Ort. Und es gibt keinen, der diese Tatsache vor dem Mord nicht kannte. Alle wissen in Pelitli schon vorher, dass Yasin Hayal und sein Mannschaft Hrant Dink ermorden werden.

Seit wann weiß man das?

Yasin Hayal wurde 2005 aus dem Gefängnis entlassen. Er war wegen eines Bombenanschlags auf McDonalds verurteilt worden. Er wurde entlassen noch während der Prozess weiterlief. Und danach fängt er unter dem Gebrauch hasserfüllter Worte gegenüber Armeniern an, seine Absicht kundzutun, Hrant Dink zu töten. Weil die Sicherheitsbehörde das weiß, wird er technisch wie physisch überwacht. Seine Telefongespräche werden abgehört und er wird überallhin verfolgt. Jetzt überleg einmal: ein sehr kleiner Ort, und darin eine Sicherheitsbehörde und eine Gendarmerie, die wissen, was Yasin Hayal vorhat. Der Hauptangeklagte Erhan Tuncel ist derjenige, der gleichzeitig das Verbrechen plant und ihnen Informationen zukommen lässt. Alles, bis zur Information darüber, dass Hrant vor der Redaktion seiner Zeitung durch einen Genickschuss getroffen werden wird, ist sowohl der Polizei als auch der Gendarmerie bekannt. Wodurch haben wir das erfahren? Durch die Aussagen vom Schwager von Yasin Hayal, Coşkun İğci. Coşkun İğci erklärt ganz deutlich, wann, wo und wie er mit dem Mitgliedern des Nachrichtendienstes der Gendarmerie kommuniziert hat, welche Art von Informationen er weitergegeben hat, was sie ihm vorgeschlagen haben, und wo und wie die Gendarmerie ihn bezüglich der Einhaltung seiner Schweigepflicht bedroht hat. Auf der anderen Seite gibt es die BBP und die Alperen Ocakları. Aber zu all diesen Themen wird keine effiziente Ermittlung geführt.

Doch die Gesetzgebung sagt hinsichtlich des Rechts auf das Leben folgendes: Erstens trägt der Staat jede Art von Verantwortung zur Bewahrung des Rechts auf das Leben von Menschen, indem er alle Vorkehrungen trifft. Und zweitens hat er die Verantwortung darüber, dass nach einer Straftat eine effiziente Ermittlung durchgeführt wird, um diesen Mord aufzuklären. Aber zurzeit ist das nicht der Fall. Der Bereich, der die Instanzen berührt, über die ich bereits berichtete, wird nicht ermittelt.

Ich glaube, in allen Einspruchsgesuchen, die die Rechtsanwälte in diesem Zusammenhang an Trabzon gerichtet haben, ist von einer Strafverfolgung abgesehen worden. Ist der Rechtsweg in diesem Zusammenhang ausgeschöpft? Ist Trabzon der Knotenpunkt dieser Verhandlung?

Wenn man sich diesen Prozess anschaut, erkennt man sogar als Laie: Ja, es sieht so aus, als ob dieser Mord in Pelitli geplant wurde. Aber, wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, dass ein Junge aus Pelitli, der Istanbul gar nicht so richtig kennt, Waffen und Munition in seine Hosentaschen einpackt, Hrant Dink von hinten erschießt und weggeht. Dieses Szenario ist doch gegen alle Vernunft. Warum wird das so gemacht? Damit man einen 17-jährigen Jungen als Täter anzeigt und den Fall an Ort und Stelle abschließt. Aber das Verbrechen ist unmöglich, ohne in Istanbul Verbindungen zu besitzen. Weil wir aus den Aussagen des Schützen entnehmen, dass einige Punkte im Dunklen liegen. Etwa, wie er aus Trabzon hierher gelangt, an welchen Orten er sich hier aufgehalten hat, wie er zum Tatort kommt, von dort flüchtet. Die Sachen mit dem Handy, mit der SIM-Card. Das Verschwinden mancher Videoaufnahmen der Banken, auf denen der Tatort deutlich zu sehen war. Dann entsteht bei uns eine Meinung: Sind manche Dinge verdeckt worden, die sich auf die Verbindung zu Istanbul beziehen? Eine effiziente Ermittlung ist eine Ermittlung, in der solche Zweifel bis auf ein Minimum reduziert werden. Die Verbindung zu Istanbul ist doch sehr wichtig. Wird aber nicht ermittelt.

Ist der juristische Weg, an die eigentlichen Täter zu kommen, die hinter den Angeklagten stehen, nicht mehr begehbar? Welchen Weg gehen Sie jetzt?

Wir führen einen Kampf. Was es auch immer ist, Trabzon und die Istanbuler Verbindung sollten effektiver ermittelt werden. Unsere Wege sind noch nicht erschöpft. Die Ermittlungen in den Verwaltungen haben nicht das erbracht, was wir erhofft hatten. Es wurde nicht effektiv ermittelt. Doch zurzeit liegen die Ermittlungsakten der Istanbuler Staatsanwaltschaft der Staatsanwaltschaft von Trabzon vor. Diese Akten beinhalten konkrete Hinweise darüber, dass sie dort nach der Straftat Beweise unterschlagen, vernichtet oder aber manipuliert und die Angeklagten begünstigt haben. Diese Hinweise haben die Staatsanwälte hier festgehalten und an Trabzon geschickt. Diese Akte ist noch offen und darüber ist noch nichts beschlossen worden.

Was für Feststellungen sind das?

Wie gesagt, Yasin Hayal und Erhan Tuncel wurden technisch überwacht. Weil Hayal auch physisch beschattet wurde, kam er nicht selbst, sondern schickte einen anderen als Schützen. Diese Tatsache ist uns von der Sicherheitsbehörde Trabzon nicht mitgeteilt worden. Aber es muss alles, was mit dem Fall zu tun hat, sofort der ermittelnden Staatsanwaltschaft mitgeteilt werden. Die Staatsanwälte hier erfahren es über eine andere Quelle. Daraufhin schreiben sie an Trabzon und teilen mit: „Sie haben diese Angeklagten technisch überwacht. Schicken Sie uns alle anhänglichen Dokumente!“ Sie schicken, aber sie schicken nicht alles. Zum Beispiel fehlen die Telefonnummern der ankommenden Gespräche. Auch manche anderen Details fehlen und wichtige, nicht vorhandene Informationen zur Aufklärung dieses Mordes werden von hier aus Trabzon angefordert. Die Antwort aus Trabzon lautet: „Nachdem wir sie Ihnen geschickt haben, haben wir sie vernichtet.“

Zweitens teilen sie die technische Überwachung von Yasin Hayal gar nicht erst mit. Drittens fragen die Staatsanwälte hier als Folge des dortigen Missverhaltens bei der Leitung der Telekommunikationsbehörde an, ob alle Angeklagten abgehört worden seien. Sie erfahren, dass in Sachen Mustafa Öztürks ebenfalls ein solcher Beschluss vorliegt. Mustafa Öztürk ist Mitangeklagter und Vorsitzender der Alperen Ocağı. Das wurde aber nicht mitgeteilt. Die Staatsanwälte schreiben erneut an Trabzon mit der Anfrage, warum diese Dokumente nicht geschickt wurden und mit der Anforderung der Dokumente. Die Antwort lautet: „Wir hatten einen Gerichtsbeschluss über Mustafa Öztürk. Aber dann haben wir gemerkt, dass er von jemandem anderen verfolgt wurde und haben die Überwachung eingestellt.“ Infolge dessen fragte die Staatsanwaltschaft erneut die Telekommunikationsbehörde und erfuhr, dass lediglich die Sicherheitsbehörde von Trabzon einen solchen Auftrag erteilt hat und nur im Bezug auf diesen ein Gerichtsbeschluss vorliegt. Die Staatsanwälte stellten fest, dass manche Aufnahmen technisch geändert wurden. Es gibt viele andere Beispiele. Die Akte liegt zurzeit bei der Staatsanwaltschaft von Trabzon. Wir haben die Zusendung und Zusammenführung mit der Hauptverhandlung verlangt. Wenn diese Teile nicht im Zusammenhang mit der Hauptverhandlung gesehen werden, kann kein Gesamtbild des Mordes entstehen und er wird nicht aufgeklärt. Diese Verhandlung wird dann nur zu den Angeklagten führen. Etwa zwei oder drei Angeklagte werden verurteilt und der Prozess wird damit abgeschlossen.

Zu Prozessbeginn schien die Regierung eine stärkere politische Neigung zur Aufklärung aller Täter und Punkte zu zeigen. Das scheint nicht mehr so zu sein, und alles scheint blockiert. Oder nimmt die Öffentlichkeit das nur so wahr?

Seit längerem ist es blockiert. Am Anfang zeigte die politische Seite Konsequenz. Deshalb wurde der Schütze sofort gefasst und es wurde sofort herausgefunden, dass Erhan Tuncel der helfende Informant war. Aber die Ermittlung ist bis hierher gekommen, und dann ging es nicht mehr weiter. Seitdem verlor auch die Politik ihre Konsequenz. Zum Beispiel in Bezug auf die Einbeziehung der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst. Im Gegenteil, es gibt eine Neigung zum Verdecken dieser Dinge.

Worauf führst Du das zurück?

Es ist so, als ob dieser Prozess einigen Verhandlungen über die Macht geopfert wurde. Als hätte man gesagt hat: Das reicht! Aber das ist lediglich eine Vermutung von mir. Die Inspektoren ermitteln in der Sicherheitsbehörde oder in der Gendarmerie. Aber die Personen, die in diesem Mord der Unterlassung beschuldigt werden, sind immer noch im Dienst und diese Personen sind dieselben, die die Beweise an die Inspektoren abliefern.

Wer sind diese Personen?

Zum Beispiel der Stadtgendarmeriekommandant von Trabzon, Ali Öz. Der noch in der dortigen Sicherheitsbehörde beschäftigte Leiter des Nachrichtendienstes sowie der Vorsitzende des Nachrichtendienstes von Ankara, Ramazan Akyürek. Diese Personen liefern dem Gericht auch die Beweismittel. Somit ist die Ermittlung nicht effektiv, nicht unabhängig, nicht vertrauenswürdig oder glaubhaft. Dieser Prozess wird so nicht weiterführen.

Können eigentlich die Rechtsanwälte und die Staatsanwälte während dieses Prozesses in angemessenem Rahmen frei und ohne Druck arbeiten?

Dass, was ich über die Beweismittel berichtet habe, ist ein Beweis für das Gegenteil. Auf der einen Seite gibt es eine Bestrebung, die Beweise zu verdunkeln, zu vernichten und zu behindern, und auf der anderen Seite ist in den Nachermittlungen der Beweislieferer diejenige Person oder Instanz, die wegen Unterlassung bezichtigt wird. Deshalb kann hier nichts rauskommen. Er wird wohl kaum die Beweismittel liefern, die gegen ihn sprechen. Er wird wie auch immer selektieren. In der Mordnacht wird Erhan Tuncel durch die Leitung des Nachrichtendienstes in Trabzon festgenommen. 14 Stunden lang, bis zum Morgen wird er dort festgehalten, sein Handy wird ihm abgenommen. Am Morgen wird er freigelassen. Niemand weiß etwas davon. Es kommt erst später heraus.

Gibt es Dokumente über die dortigen Aussagen?

Nein, die gibt es nicht. Das kam durch die Aussagen seines Mitbewohners heraus. Man untersuchte das später und bekam heraus, dass sein Handy auf dem fraglichen Gebiet geortet wurde. Auch das haben sie also versteckt. Warum er dort festgehalten wurde, weiß man nicht. Er ist aber ein Beteiligter des Mordes.

Nach dem Mord sind etwa einhunderttausend Menschen auf die Straße gegangen. Spürst Du diese Solidarität heute auch? Was für eine Unterstützung erwartest Du von der demokratischen Öffentlichkeit?

Der Druck der Öffentlichkeit ist sehr wichtig, weil man bestrebt ist, den Prozess auf diese Weise abzuschließen. Zum Beispiel wurde neulich ein Telefongespräch in der Presse veröffentlicht. Dieses Gespräch verletzte das Gewissen von jedem und das Innenministerium fühlte sich dazu gezwungen, eine neue Ermittlung zu beginnen. Aber sie manipulieren ständig die Öffentlichkeit. Augenblicklich gibt es Kriegszustand, es herrscht Gewalt. Man führt eine Politik der Angst. Trotzdem müssen die Öffentlichkeit und die Presse diesen Prozess aufmerksam begleiten. Nur so können wir in manchen unserer Schritte erfolgreich sein. Wir besitzen eine wichtige Gelegenheit dafür, dass die Türkei aus dieser Atmosphäre herauskommt, in der sie sich momentan befindet. Wenn wir diesen Prozess ernst nehmen, die Indizien festhalten und beginnen, aufzuklären, können wir die Zukunft der Türkei erhellen.

Der Beschluss der Verhandlung gegen die Zeitung AGOS ist veröffentlicht worden. Arat Dink und Sargis Seropyan sind wegen des § 301 des türkischen Strafgesetzbuchs zu jeweils einem Jahr verurteilt worden. Wie bewertest du das?

Besonders dieser Beschluss ist politischer Natur. Ich besitze als Juristin Schwierigkeiten damit. Es ist ein politischer und einseitiger Text. Es handelt sich um einen Text, in dem historische Ereignisse aus einem bestimmten Blickwinkel heraus gedeutet werden.

Ich glaube, sie interpretieren die Epoche von 1915.

Ja, bei diesen historischen Ereignissen geht es um 1915. Es ist niemals die Aufgabe eines Gerichts, historische Ereignisse zu bewerten und festzustellen: „Das ist richtig, und du sollst daran glauben“. Im Gegenteil, das Gericht besitzt die Aufgabe, die Redefreiheit zu verteidigen und zu bewahren, damit historische Wahrheiten an das Tageslicht treten können. Aus diesem Grunde handelt es sich bei diesem Text um keinen juristischen Text.

Ihr werdet doch diesem Beschluss widersprechen?

Zweifellos werden wir Widerspruch einlegen. Aber ein Strafanwalt achtet bei einer Verhandlung auf verschiedene Dinge. Das erste ist: die Typizität. Entspricht die Handlung einem Typ von anerkanntem Straftatbestand? Zuerst muss er darauf achten. Im vorliegenden Fall entspricht das keiner Straftat, weil es sich um einen Bericht handelt, der wortgleich bereits in vielen anderen Medien in der Türkei erschienen ist. Den anderen aber ist zu Recht deswegen keine Verhandlung angehängt geworden. Warum aber dann diese Verhandlung? Die Diskriminierung fängt hier an. Das zweite ist, ob die Sache der Justiz entspricht oder nicht. Nein, es entspricht der Justiz, weil er im Rahmen der Pressefreiheit veröffentlicht wurde. Drittens untersucht man die Tat im Hinblick auf die immateriellen sowie materiellen Belange. Zum Beispiel: gibt es eine erniedrigende Absicht? Die Verhandlung wird unter diesem Aspekt beachtet. All das wird aber nicht durchgeführt. Man verfährt mit grundsätzlicher Voreingenommenheit: „Ihr seid Armenier und macht euch unsichtbar. Andere können so schreiben, aber ihr werdet niemals das schreiben können“. Im Grunde genommen erniedrigt ausgerechnet die Begründung dieses Beschlusses das Türkentum. In diesem Zusammenhang werden die Türken als „inkonsequente, bis aufs äußerste wütende, beleidigte, impulsive, aggressive und durch den äußeren Druck deprimierte…“ projiziert. Dieses Gesellschaftsbild ist nicht attraktiv. Das kann doch nicht sein. Das Gericht selbst macht sich im Sinne der Typizität schuldig. Zudem beinhaltet dieser Text Aussagen, die beinahe der Straftat der Volkshetze nach § 216 des StGB (Türkei) entsprechen. Deshalb kann dieser Text kein juristischer sein. Wir akzeptieren das auf keinen Fall. Er ist auch nicht unabhängig. Der Richter muss, was auch immer geschieht, auf jeden Fall unabhängig sein. Ein Richter muss vor allen Dingen sich selbst, seinen eigenen Meinungen gegenüber unabhängig sein. Ohne Zweifel haben auch die Richter politische oder ideologische Überzeugungen. Aber sie müssen diese beiseite lassen und unabhängig ihre Entscheidungen treffen.

Wie gestalten sich die Beziehungen von Minderheiten zu dem Staat?

Die Minderheiten werden nicht als gleichwertige und freie Bürger oder Individuen angesehen. In dieser Gesellschaft gibt es „echte“ Bürger. „Das steht schon einmal fest und du hast dich dementsprechend zu verhalten. Wenn du nicht dazugehörst, bist Du nicht vertrauenswürdig und kannst auch nicht im Großen und Ganzen von den Bürgerrechten profitieren.“ Das ist ein Blickwinkel. Auch, wenn die entsprechenden Gesetze offiziell noch nicht vorliegen, gibt es eine nicht schriftlich festgehaltene Verfahrensweise. Und das ist eben die dazugehörige Verhaltensweise.

Es gab zum Beispiel eine „Unterkommission Minderheiten“, wie du durch deine Untersuchungen herausgefunden hast. Gibt es heute noch inoffizielle Bestrebungen innerhalb des Staates?

Solche Mechanismen gab es von Anfang an. Seit der Gründung der Republik werden die Minderheiten als bedrohlich und nicht vertrauenswürdig angesehen. Sie werden nicht als gleichwertige Bürger betrachtet. Aus diesem Grunde gibt es viele Vorkehrungen und Vorfälle. So z.B. die Ereignisse des 6. und 7. September 1955, antigriechischer Pogrom in Istanbul, später auf andere Ethnien ausgeweitet, die gegen Nichtmuslime gerichteten Kopfsteuern Varlık Vergisi; 1942-15.03.1944, einige Anweisungen nach der Zypern-Krise 1962, 1964, 1974, die Vorfälle in Thrakien usw. Deshalb reduziert sich die Anzahl der Minderheiten seit diesen Tagen drastisch. Der Druck hat in den letzten Jahren zugenommen. Zum Beispiel waren in den ersten Jahren der Republik einige Einrichtungen und die Schulen der Minderheiten noch in einer guten Situation. Nach und nach reduzierte sich die Schülerzahl und damit auch die der Schulen. Sie stehen unter einem enormen Druck. Man hat große Probleme mit den Schulbüchern und den Lehrkräften. Die Qualität ist gesunken, so dass viele Eltern ihre Kinder auf andere Schulen schicken. Vor allem ist die Bevölkerungsanzahl gesunken. Man muss nicht auf andere Dinge gucken. Wenn man lediglich diesen Trend betrachtet, kann man sehen, wie sich die Lage der Angehörigen von Minderheiten in der Türkischen Republik entwickelt hat.

Gibt es diese Unterorganisation noch?

Nein. Folgendes ist mit der Unterkommission passiert: Ich glaube, es war 2004. In Zeiten der heißen Verhandlungen um die EU fand im Generalsekretariat der EU-Kommission eine Sitzung statt, an der sich auch das türkische Innenministerium beteiligte. Ich wurde ebenfalls eingeladen. Außer mir waren die Vertreter der Gemeindestiftungen, Rechtsanwälte und viele Vertreter weiterer öffentlicher Stellen anwesend. Darunter auch die Verwaltungsdirektion der Stiftungen, das Innenministerium sowie die damals noch existierende, dem Kanzleramt untergeordnete Kommission zur Beratung über die Menschenrechte und deren Vertreter. Zu dieser Versammlung hatte ich eine Dokumentation, einen Beleg zur Unterkommission mitgenommen. Als ich an der Reihe war, fragte ich danach, was das eigentlich sei. Anschließend gab es ein ordentliches Durcheinander dort.

Was für ein Beleg war das?

Es handelte sich um ein Schreiben, aus dem der Beschluss der Unterkommission zur Angelegenheit einer armenischen Stiftung zu entnehmen war. Das Schreiben war sogar an ein Gericht gerichtet. Es war also ein öffentliches Schreiben. Es gab ein Durcheinander, und der Generalsekretär kam zu mir und wollte eine Kopie haben. Es wurde fotokopiert, ausgeteilt und viel diskutiert. Ausgehend von der Reaktion des Generalsekretärs habe ich ernsthaft geglaubt, dass er wirklich dort zum ersten Mal von diesem Fall erfahren hat. Wir saßen um einen Tisch herum und hinter uns war jemand, der einzeln saß und uns verfolgte. Später kam diese Person zu mir und sagte: „Wir verfolgen Sie. Sie beschäftigen sich zu intensiv mit diesem Thema.“ Soweit ich verstehen konnte, kam er wohl von der Minderheiten-Unterkommission. Er sagte: „Diese Angelegenheit verhält sich nicht so, wie Sie sich das vorstellen. Während der Zypern-Vorfälle von 1962 ist eine Unterkommission zur Sache der Minderheiten gegründet worden.“ Ich sagte nur, dass ich folgende Tatsachen erfahren möchte: Auf der Grundlage welchen Gesetzes wurde sie gegründet? Wer arbeitet dort? Woher bekommen sie ihre Löhne? Welche gesetzlich geregelten Aufgaben nehmen sie wahr? Diese Fragen habe ich ihm gestellt. Am nächsten Tag stand folgender Bericht in den Zeitungen: „Die Minderheiten-Unterkommission ist aufgelöst worden.“

Ich glaube, nach der Diskussion an diesem Tag. Aber sie haben stattdessen etwas anderes gegründet. Es gibt einen Ersatz. Ihr Name lautet jetzt nicht mehr „Unterkommission Minderheiten“, sondern anders. Etwa „Kommission zur Lösung der Minderheitenprobleme“.

Sind die gleichen Stellen beteiligt?

Das wissen wir nicht. Diesbezüglich gibt es keine Informationen. Der Staat sollte aber transparent sein. Insbesondere, wenn es um eine Einrichtung geht, die über Minderheiten und Minderheitenstiftungen Entscheidungen trifft. Nach welchem Gesetz wurde sie gegründet? Welche gesetzlich umschriebenen Aufgaben besitzt sie? Aus welchen Mitarbeitern besteht sie? Es muss ein Gesetz dafür geben. Dann haben sie gesagt, sie hätten sie aufgelöst. Wir hoffen, es ist so.

Gibt es eine solche Einrichtung auch jetzt?

Das wissen wir auch nicht. Man sagte, dass eine solche Kommission gebildet wurde, aber ich weiß nicht, auf welcher Grundlage sie gegründet wurde.

Was waren die Aufgaben und Ziele der vorherigen Unterkommission?

Das können wir auch nicht sagen, aber es wurde von dort aus an das Gericht geschrieben. Dort steht: „Das ist die Entscheidung der Unterkommission. Du, Richter, hast dich danach zu richten.“ Also entscheidet über die Minderheiten nicht das Gericht selbst, sondern die Unterkommission. Die Entscheidungsinstanz liegt dort.

In der letzten Zeit haben einige Oberbefehlshaber wie z.B. Kenan Evren in Interviews ihre früheren Fehler gestanden. Du warst einer der am schwersten gefolterten Menschen zu Zeiten des 12. September 1980. Was empfindest Du, wenn Du so etwas hörst?

Man muss nicht unbedingt den 12. September erlebt haben, um darauf reagieren zu können. Meiner Meinung nach reicht es dafür aus, Bürger dieses Staates zu sein und diese Dinge zu lesen. Die Personen, die sich damals als Besitzer dieses Landes aufführten, haben damals einen Urteil gefällt: „Das ist die Wahrheit! Wir finden es richtig und ihr alle habt euch nach dieser Wahrheit zu richten. Wer das nicht tut, ist ein Landesverräter.“ Wer sich nicht anpasste, wurde ins Gefängnis gesperrt, gefoltert und manche sind sogar unter der Folter gestorben oder wurden nach einer Verurteilung erhängt.

Nach all diesen Ergebnissen kommen sie heute und sagen: „Pardon, wir haben uns geirrt!“ Ich bin dafür, dass zur Abrechnung dieser vergangenen Tage die Personen verurteilt werden müssen. Auf jeden Fall muss das geschehen. Damit sich diese Fehler heute nicht wiederholen, damit aus dem Erlebten gelernt wird, müssen sie verurteilt werden. Aber ich sehe, dass heute wieder die gleichen Fehler begangen werden. Auch heute sagen manche Machthaber „Die einzige Wahrheit lautet so“, und darüber hinaus sagen sie: „Wenn Sie außerhalb dieser Wahrheit denken und sich dahingehend äußern sollten, ist es strafbar.“ Der jüngste Beschluss in Sachen Arat Dinks und Sarkis Seropyans betrifft eine solche Anschuldigung. Auch dort ist etwas vorbestimmt worden. „Das ist richtig. Wenn du dich nicht anpasst, verurteile ich dich.“

Du arbeitest seit Jahren in den „Rotbereichen“ des Staates, über Tabuthemen. Woher nimmst Du diese Courage?

Was für eine komische Frage! (sie lacht). Ich tue das, woran ich glaube. Ich kämpfe, weil ich wirklich daran glaube. Nennt man das Courage? Vielleicht ist das tatsächlich so, aber ich sage wirklich, woran ich glaube, als ein Mensch, als eine Juristin. Also, es gibt gewisse Werte, die einen zum Mensch und Juristin machen. Ich verteidige diese Werte nur, aber das wird als Courage aufgefasst in dieser Gesellschaft. Eigentlich sollten das doch alle so machen, die sich als Mensch bezeichnen, als Jurist bezeichnen. Falls ich mich anders verhalte, leugne ich mich selbst.

Übersetzt aus dem Türkischen: Ayşın und Özge İnan

Quelle: Das Interview mit Fethiye Çetin erschien in der feministischen Zeitschrift
„Amargi: Feminist teori ve politika“, 2007, No. 7. S. 26-31, Istanbul

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