Ein Istanbuler Bezirksgericht verurteilte den Sohn des am 19. Januar 2007 ermordeten armenischen Zeitungsverlegers Hrant Dink sowie dessen Geschäftspartner Sargis (türkisch Serkis) Seropyan, weil die von Dink gegründete Zeitung „Agos“ 2006 ein Interview Hrant Dinks mit der Nachrichtenagentur Reuters veröffentlicht hatte. In diesem Interview hatte Hrant Dink den Völkermord an den Armeniern erwähnt. Das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren wurde zunächst posthum bis zum März 2007 fortgesetzt, weil das Gericht trotz der Ermordung Dinks, die durch die Weltpresse ging, angeblich keine Kenntnis vom Ableben des Angeklagten besaß. Nun müssen stellvertretend sein Sohn und der „Agos“-Besitzer Seropyan für die Äußerungen des Toten ins Gefängnis.

Unser Kommentar:
Das Urteil vom 12.10.2007 ist in dreifacher Hinsicht ein Skandal. Denn es beruht auf dem Grundsatz der Kollektivhaftung und macht Menschen für Taten verantwortlich, die sie persönlich nicht begangen haben.

Es ist zweitens rassistisch, denn dasselbe Gericht hat am 31. Januar 2007 die Strafverfolgung gegen den in den USA lebenden türkischen Wissenschaftler Prof. Taner Akçam eingestellt. Akçam hatte am 6. Oktober 2006 in einem Artikel in „Agos“ die Strafverfolgung gegen Hrant Dink kritisiert und betont, dass Dinks armenische Ethnizität ausschlaggebend für dessen Strafverfolgung sei. Zur Begründung für die Verfahrenseinstellung gegen T. Akçam schrieb der zuständige Staatsanwalt: „Wenn man die Veröffentlichung als Ganzes analysiert, zusammen mit den Stellungnahmen des Verdächtigen, der (…) glaubt, dass die Ereignisse zwischen 1915 und 1919 einen Genozid darstellen, und dieses in all seinen Schreiben sowie auf akademischen Konferenzen feststellt, dann finden wir, dass es hier nichts gibt, was als Beleidigung des Türkentums charakterisiert werden könnte, und dass es sich innerhalb des 10. Artikels der Menschenrechtskonvention bezüglich der Redefreiheit bewegt (…)”. Im Falle der Armenier Arat Dink und Sargis Seropyan befand aber dasselbe Gericht zehn Monate später, dass die Angeklagten mit der seinerzeitigen Veröffentlichung eines Interviews das Türkentum herabgewürdigt hätten.

Auf der selben Ebene rassistisch selektiver Parteinahme lag die Entscheidung des selben Gerichts in Istanbul-Şişli, einen Jugendlichen, der nach der Ermordung Hrant Dinks die Redaktion von „Agos“ mit Morddrohungen terrorisiert hatte, mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe davonkommen zu lassen.

Drittens halten wir die weitere Existenz und Anwendung des Artikels 301 für einen Justizskandal. Der Umstand, dass Hrant Dink bei seinem Tod fünffach wegen „Herabwürdigung des Türkentums“ angeklagt bzw. verurteilt worden war, hatte wesentlich zu seiner öffentlichen Brandmarkung als „Feind“ der Türken und schließlich zu seiner Ermordung durch einen von Ultranationalisten gesteuerten jugendlichen Täter geführt. Zur Erinnerung: Der fragwürdige Gesinnungs- und Knebelartikel, der nach Auffassung von „amnesty international“ eine „ernsthafte Gefahr für die Redefreiheit darstellt“, war erst 2005, im Zuge einer „Reform“ des türkischen Strafrechts eingeführt worden und bildete seither den Anlass für internationale Proteste und die Forderung der Europäischen Union, den Artikel ersatzlos zu streichen.

Darauf haben aber die Gesetzgeber und Regierungsverantwortlichen nicht einmal nach Hrant Dinks Ermordung und Orhan Pamuks de facto-Flucht reagiert. Regierungschef Erdoğan hatte zwar 2006 NGOs in der Türkei aufgefordert, Formulierungen für eine Novellierung von Artikel 301 einzureichen. Eine ersatzlose Streichung kommt aber auch für ihn und auch nicht für Präsident Gül infrage. Erdoğan will sich lediglich einem im Februar 2007 erneut unterbreiteten Vorschlag des türkischen Presserates anschließen: Danach sollen „Herabwürdigung“ durch „Beleidigung“ und „Türkentum“ durch „türkische Nation“ ersetzt werden. Nach der Wiederwahl seiner Partei AKP gab Erdoğan drei weiter reichende Novellierungsdetails bekannt: Das Strafmaß soll künftig nur höchstens zwei Jahre Haft betragen und Meinungsäußerungen ausdrücklich ausgenommen bleiben. Überdies sollen Anklagen nach Artikel 301 nur mit Autorisierung des Staatspräsidenten möglich sein.

So bruchstückhaft und daher unbefriedigend diese Lösung ist, so hat sie doch schon jetzt den Protest der größten Oppositionspartei, der CHP, hervorgerufen. Ihr Sprecher erklärte prompt „kein einziger Buchstabe“ des berüchtigten Strafrechtsartikels 301 dürfe geändert werden, denn wer den Artikel antaste, gebe ein Stück türkischer Souveränität auf; das sei das genauso, als wenn man Vergewaltigung straffrei lasse. In bewährter Manier beschwor der CHP-Sprecher alte türkische Feindbilder: Hinter den Reformplänen stecken angeblich „die Armenier, die USA und die EU.“

Menschenrechtsorganisationen inner- und außerhalb der Türkei haben die Fortsetzung des Strafverfahrens gegen Arat Dink und Sargis Seropyan scharf kritisiert, ebenso wie die Versäumnisse bei der parallel laufenden Ermittlung gegen die Mörder Hrant Dinks. Die türkische Menschenrechtsorganisation DurDe (Initiative „Sag Nein zum Rassismus und Nationalismus!“) bezeichnete die zweite Anhörung im Mordfall Dink am 1. Oktober 2007 zutreffend als „schamlos“: „Dem Gericht wurde nicht erlaubt, gegen den Polizeioffizier zu ermitteln, der an der Planung eines Mordes beteiligt war und dessen Telefongespräch die gesamte Türkei mithörte. Ein Polizeioffizier, der über Hrant sagte ‚Falls er Saures gekriegt hat, hat er’s gekriegt’, und der jetzt der zweite Mann nach dem ehemaligen Polizeichef von Trabzon ist. Beide wurden geschützt und belohnt.“

Wir fordern:

  • AUFHEBUNG DES SKANDALURTEILS GEGEN ARAT DINK UND SARGIS SEROPYAN!
  • ERSATZLOSE STREICHUNG VON STRAFRECHTSARTIKEL 301
  • UMFASSENDE ERMITTLUNGEN IM MORDFALL HRANT DINK! KEINE SCHONUNG UND KEINE BELOHNUNG FÜR
    ULTRANATIONALISTISCHE HINTERMÄNNER UND DRAHTZIEHER!

Artikel 301 StGB (Türkei)

Wer öffentlich das Türkentum, die Republik oder die Große Nationalversammlung herabwürdigt, soll mit Haft zwischen sechs Monaten und drei Jahren bestraft werden. Wer öffentlich die Regierung der Republik Türkei, die juristischen Einrichtungen des Staates, die militärischen oder Sicherheitsorgane beleidigt, soll mit Haft zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft werden. Falls ein türkischer Bürger das Türkentum in einem anderen Land beleidigt, soll die Strafe um ein Drittel erhöht werden.

Mutiges Auftreten: Arat Dink und Sargis Seropyan

Arat Dink wiederholte vor Gericht die Worte seines Vaters: „Falls man mich fragt (…): ‘Sag mal, war das ein Genozid, wie würdest du es beschreiben?’, dann könnte ich mich nicht selbst verleugnen. I kann nicht meine Geschichte und Identität verleugnen. Ich habe die selbe Sache früher gesagt und das machte Schlagzeilen in den türkischen Zeitungen, aber kein Verfahren wurde eingeleitet. Weil damals noch keine Operation eingeleitet worden war, um mich an meinen Platz zu verweisen….“ Seropyan sagte vor Gericht: „Ich erscheine hier als Besitzer der Zeitung. Als wir Unterschriften gegen den Artikel 301 sammeln mussten, habe ich es getan und würde das selbe heute wieder tun.“

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