Bedros Dağlıyan

Istanbul, 25.12.2014

Gestern habe ich Fatih Akins Film „The Cut“ gesehen. Im Saal waren wir bloß zehn Personen. In der Pause leuchteten die Lichter auf. Es schwiegen alle. Manche hatten die Augen zugemacht, andere hatten Tränen in den Augen. Ihre Hände auf der Brust ruhend, versuchten sie die Verwirrung, vielmehr den Hieb des Moments zu verarbeiten. In diesem Augenblick verschlug der Schnitt nicht nur dem Protagonisten die Sprache. Alle Zuschauer waren, wie auch im Film, verstummt. Wie die Personen des Films waren sie unterwegs, auf einer Reise zum Tod.

Der Film ist das Produkt eines naiven Gefühls. Weder hat das Massaker Gestalt, noch das Böse selbst. Es gibt gute Menschen, die Hilfsbereiten, und es gibt die Bösen, aber stets auch die Hoffnung. Der Schmied Nazaret hat die Hoffnung, seine Zwillingstöchter zu finden. Auf der Spur seiner Töchter gibt es die unerträgliche Erschwernis einer jahrelangen Reise von Kuba bis Amerika.

Eines muss man an dieser Stelle besonders erwähnen: Dieser Film ist kein so schlechter Film, wie die Kritiker in der Türkei behaupten; er wurde jedoch konzipiert, um das, was wahr ist, denen zu erklären, die sich als Türken sehen. Es gibt weder eine unnötige Darstellung des Massakers, noch ein überflüssiges Gemetzel. Aber der Zuschauer spürt die Grausamkeit dieses Dramas dennoch so aufrüttelnd, als stürze er plötzlich auf harten Stein. Mehmet, der den Schmied Nazaret nicht töten will und sagt, er sei ein Dieb und kein Mörder, versenkt seinen Dolch in dessen Kehle und tut, als habe er ihn getötet. Und Nazarets Stimme verstummt. Auch unsere Stimme ist heute verstummt. Die Armenier haben jahrelang auf eine schweigende und unsichtbare Weise gelebt. Aus diesem Schweigen wurden sie von Hrant Dink befreit. Er wurde selbst zu einer schallenden Stimme. Im Grunde genommen wiederholt sich diese Geschichte des Verstummens bei den Jesiden, die in Schingal Widerstand leisten und in der Türkei im Stillen zu leben versuchen, bei den Suryoye und bei den Alewiten in Dersim, Maraş, Tokat, Sivas und Çorum.

Ich habe viele Freunde und Genossen auf Facebook, und ich weiß nicht, wie viele von euch diesen Film gesehen haben; mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch ganz wenige. Eigentlich weist die Tatsache, dass die anderen zeitgleich angelaufenen Filme höhere Zuschauerzahlen erreichen, eher auf die Flucht der Menschen vor der Wahrheit hin.

Niemand will die Konfrontation mit der Wahrheit, weil es auch eine Art Traumatisierung bedeutet, diese Wahrheit anzuerkennen. Geht und schaut euch trotzdem diesen Film an, denn das Bewusstsein und die Aufarbeitung erfordern es.

Wir aber erleben in der Tiefe unserer Existenz dieses Trauma andauernd und im Bewusstsein des Moments. Ich habe diesen Film gesehen und hatte gleichzeitig das Buch „Kimlik İstemem“ [dt.: Ich möchte keine Identität] von Anjel Dikme in der Hand. Bevor ich den Kinosaal betrat, las ich darin, und auf der Leinwand fand das Gelesene seine Fortsetzung. Wenn auf viele Seiten meine Tränen fielen, möge die liebe Anjel das als einen Beitrag zu ihrem Buch auffassen.

Also, liebe Freunde, ich habe gestern einen Film gesehen und gespürt, dass wir Armenier noch immer der Hoffnung entgegenlaufen. Wenn wir Armenier irgendwo ein Zuhause finden, pflanzen wir dort, wie es auch Anjel in ihrem Buch beschreibt, erst Obstbäume an: Walnüsse, Granatäpfel, Maulbeeren und Ölweiden. Dann bauen wir unsere Häuser und segnen jeden einzelnen Stein. Anschließend bauen wir unsere Schulen und Kirchen. Heute haben wir keine Erde, die uns gehört. In Betonhäusern Zuflucht findend, hegen wir Hoffnung. Jeder von uns lässt in seinem Inneren einen Granatapfelbaum wachsen, oder einen Walnuss-, Maulbeer- oder Platanenbaum. Nachts träumen wir von einer schönen Heimat, jeder seinen Baum umarmend, und in unseren Ohren klingen die Wiegenlieder unserer Großmütter. Am meisten träumen wir von Anatolien. Wir hegen diese Hoffnung bis zu dem Tage, an dem das Wasser seinen Weg findet.

Sterben – ja, das Sterben in diesen Landen ist der schönste Lohn für jeden Armenier.