Es ist gute demokratische Sitte, dass Nichtregierungsorganisationen vor Parlamentswahlen Parteien und deren Kandidaten nach ihren Positionen zu Anliegen befragen, die den anfragenden Organisationen satzungsmäßig wichtig sind.

So hat denn auch die Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung den Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien mit Aussicht auf Wiederwahl untenstehende vier Fragen zur künftigen Erinnerungs- bzw. Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschland gestellt:

  • Wird sich (Name der Partei) dafür einsetzen, dass der Deutsche Bundestag die Halbherzigkeit seines Beschlusses von 2005 revidiert und spätestens einhundert Jahre post factum zu einer qualifizierten Beurteilung der an den osmanischen Christen verübten Verbrechen gelangt?
  • Wird sich (Name der Partei) dafür einsetzen, dass in der Bundesrepublik geborene oder hier aufwachsende türkeistämmige Schüler und Erwachsene umfassend mit objektiven Geschichtsinformationen schulisch wie außerschulisch versorgt werden?
  • Wird sich (Name der Partei) dafür einsetzen, dass die gezielte öffentliche Leugnung von Völkermord und die Verunglimpfung der Opfer als angebliche Verräter unter Strafe gestellt werden, etwa in Form einer Erweiterung des Artikels 130b (StGB; „Volkshetze“)?
  • Wird (Name der Partei) die in der Bundesrepublik ansässigen Gemeinschaften der Armenier, Aramäer/Assyrer und Pontosgriechen bei der Errichtung von öffentlichen Gedenkstätten unterstützen?

Wir haben die Regierungsparteien CDU, CSU und FDP sowie die oppositionellen Parteien SPD, die Grünen und die LINKE angeschrieben.

Von den befragten Parteien antworteten jedoch nur die Regierungsparteien und die Grünen.

Die Position der LINKEN können wir nur aus dem Kommentar erschließen, den Yvonne Sotorrios im KandidatInneninfo 2013 am 2. Juli 2013 zur Begründung dafür lieferte, dass sie den DirektkandidatInnen ihrer Partei „dringend“ empfahl, die Anfragen der AGA nicht zu beantworten (obwohl wir nicht Frau Sotorrios bzw. die DirektkandidatInnen um Antwort baten, sondern die Vorsitzenden Katja Kieping und Bernd Riexinger). Die aufschlussreiche Begründung für die Verweigerung lautete:

„Grundsätzlich würde sich DIE LINKE damit in ihrem künftigen politischen Handeln eindeutig binden, was bei einigen der aufgeführten Fragen zum gegenwärtigen Zeitpunkt politisch kaum zu verantworten wäre und zum Teil auch eine Abkehr von bisherigen Positionen beinhalten würde. Vor diesem Hintergrund ist es auch eher unwahrscheinlich, dass dies unsere politische Konkurrenz grundsätzlich anders sähe.“

Womit Frau Sotorrios an diesem Punkt leider recht hat. Unrecht hat sie hingegen mit ihrer kühnen Unterstellung, dass an den Pontosgriechen kein Völkermord verübt wurde (weitere griechische Bevölkerungsteile im Osmanischen Reich scheinen ihr nicht bekannt zu sein). Sie stützt sich bei diesem Urteil einzig auf den Konstanzer Historiker Boris Barth, der seine exklusive, im Widerspruch zu fachwissenschaftlichen Publikationen und zu Resolutionen des internationalen Fachwissenschaftler-Verbandes International Association of Genocide Scholars stehende Ansicht 2006 in einer Monographie bekundet hat. Die Vernichtung von Aramäern/Assyrern taucht bei Sotorrios gar nicht erst auf.

Um das Ergebnis der vergleichenden Lektüre der beantworteten Wahlprüfsteine vorwegzunehmen:

Die Unterschiede liegen weniger im Inhalt, als in der Form und Verbindlichkeit des Sprachausdrucks, mit der die ablehnende Haltung aller antwortenden Parteien jeweils umschrieben wurde. Keine deutsche Partei sieht Handlungsbedarf, den lauen, halbherzigen Bundestagsbeschluss von 2005 durch eine qualifizierende Stellungnahme zu verbessern, ob es sich bei den „Deportationen und Massakern“ von 1915 nun um einen Völkermord gehandelt hat oder nicht. Um das herausfinden, verweist die CDU/CSU-Fraktion wie schon in den Vorjahren auf den (fiktiven) türkisch-armenischen Dialog. Auch eine Novelle des Artikels 130b (StGB/Deutschland) lehnen die antwortenden Parteien ab: Sowohl das deutsche, wie auch des EU-Recht böten Hinreichund Schutz gegen Volksverhetzung bzw. Genozidleugnung. Öffentliche Gelder sollen nicht für die Errichtung von Genozidgedenkstätten verwendet werden. Lediglich die Grünen sprachen sich für eine umfassende schulische Geschichtsunterrichtung für alle SchülerInnen unabhängig ihrer Volkszugehörigkeit und einschließlich des Aspekts Genozid aus.

Wir veröffentlichen nachfolgend die Antworten im Volltext und empfehlen diese der aufmerksamen Lektüre der in Deutschland ansässigen Verbände und Vereine der Betroffenen, ferner all jener, die sich ehrenamtlich oder qua Beruf mit der Vorbereitung des 2014 und 2015 anstehenden Hundertjahresgedenkens an den Beginn des Ersten Weltkrieges bzw. des Genozids an Armeniern, Aramäern und Assyrern beschäftigen.

Üblicherweise sprechen Organisationen, die Wahlprüfsteine abfragen, anhand der Ergebnisse eine Wahlempfehlung aus. Das kann AGA aus mehreren Gründen nicht tun. Vor allem finden wir, dass die Antworten zu einförmig und zu unbefriedigend sind, um mit unserer Wahlempfehlung belohnt zu werden. All jenen, die gleich uns von den erinnerungspolitischen Positionen der antwortenden Bundestagsparteien enttäuscht sind, legen wir nahe, diese Meinung den Vorständen der Parteien schriftlich mitzuteilen – zumindest jener Partei, die sie bisher gewählt haben.

Ein weiterer Handlungsvorschlag an die Verbände und Vereine der Betroffenen besteht darin, die im Bundestag vertretenen Parteien aufzufordern, die jeweiligen Gedenktage – 24. April (1915), 19. Mai (1919) sowie 14. September (1922) –als offizielle Gedenk- und Trauertage für die Angehörigen der betroffenen Gruppen anzuerkennen bzw. sich dafür einzusetzen, dass eine solche Anerkennung durch den deutschen Gesetzgeber vollzogen wird.

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