Bei einem Bürgergespräch am 3. Juli 2012 zog die Kanzlerin Dr. Angela Merkel die Faktizität des Genozids an den Armeniern und anderen Christen im Osmanischen Reich in Zweifel und versagte ihre Unterstützung für die Bestrafung von Genozidleugnung. Damit fällt sie weit hinter die Position des Bundestages von 2005 zurück.
AGA protestiert gemeinsam mit den Verbänden der Betroffenen, der Föderation der Aramäer (Suryoye) in Deutschland e.V. sowie dem Zentralrat der Armenier in Deutschland (ZAD) e.V.
An die
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
11044 Berlin
Betr.: Bürgergespräch am 03.07.2012
Hier: Ihre Position zum Genozid an Christen im Osmanischen Reich
(Armenier, Aramäer/Assyrer, kleinasiatische und ostthrakische Griechen)
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sie hatten die Bürger/Innen dieser Republik zu einem Dialog mit dem Regierungsoberhaupt eingeladen. Unter mehr als 11.000 Initiativen für diesen Bürgerdialog hatte sich der Themenvorschlag zu einem Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern“ deutlich als meist unterstützt durchgesetzt. Dieses Bürgeranliegen haben Sie leider mit Ihren Äußerungen bisher mehr als enttäuscht.
Als eine in ihrer Mitgliedschaft internationale Menschenrechtsorganisation, die sich seit Jahren für die legislative Anerkennung des Genozids an Christen und anderen Nicht-Muslimen im Osmanischen Reich sowie im türkischen Nachfolgestaat einsetzt, waren auch wir sehr von Ihrer Erklärung enttäuscht. So wandten Sie sich gegen eine Pönalisierung von Genozidleugnung mit der Begründung, dass die Aufarbeitung der „Ereignisse“ von 1915/16 die bilaterale Angelegenheit der Staaten Armenien und Türkei seien. Sie schienen sogar Zweifel an der Faktizität des Genozids selbst zu hegen, als Sie äußerten, man könne jetzt auch nicht darüber diskutieren, ob es sich bei den Taten tatsächlich um einen Völkermord gehandelt habe.
Mit dieser Position fallen Sie nicht nur hinter die Resolution des Deutschen Bundestages vom 16. Juni 2005, sondern auch gegen fortgesetzte Beschlüsse des Europäischen Parlaments seit 1987 zurück; das Europäische Parlament hat den Gesetzgeber und Regierung der Republik Türkei in vier Beschlüssen aufgefordert, sich aus Gründen der regionalen Stabilität und der Festigung der Demokratie im Lande der Vergangenheit zu stellen und den Völkermord an den Armeniern sowie (seit 2006) Aramäern/Assyrern sowie Griechen als historische Tatsache anzuerkennen.
Ihre menschenrechtlich wie politisch untragbare Position verkennt ferner den Forschungsstand der Fachwissenschaft, denn der größte internationale Verband der Genozidforschung, die International Association of Genocide Scholars (IAGS), hat seit 1997 ebenfalls in mehreren Resolutionen den Genozid im Osmanischen Reich bestätigt. Von Detailfragen abgesehen besteht hier also kein Forschungsbedarf.
Die Massaker und Todesmärsche während der letzten Dekade osmanischer Herrschaft liegen zudem empirisch neben der Schoah der UN-Genozidkonvention (1948) zugrunde, wie ihr Autor Raphael Lemkin bei verschiedenen Anlässen deutlich hervorgehoben hat.
Die von der Bundesregierung, insbesondere vom Auswärtigen Amt, während Ihrer Kanzlerschaft wiederholt ausgesprochene Ansicht, der Genozid an über drei Millionen Christen im Osmanischen Reich solle zwischen den – höchst ungleichen Staaten – Armenien und Türkei direkt und bilateral geklärt werden, stellt ein peinliches Ausweichmanöver zum Zeitschinden dar, namentlich im Hinblick auf die „qualifizierte Mitverantwortung Deutschlands“ (der Schweizer Genozidforscher und Turkologe Hans-Lukas Kieser). Als wichtigster Militärverbündeter des Osmanischen Reiches war Deutschland Nutznießerin der vom osmanischen Kriegsministerium für den deutschen Bagdadbahn-Bau bereitgestellten armenischen Zwangsarbeiter, die die türkischen Verbündeten Deutschlands anschließend deportierten und ermordeten. Die damalige deutsche Regierung war zugleich umfassend informierte Mitwisserin dieses ersten großen Verbrechens eines Staates an den eigenen Bürgern, schwieg aber dennoch aus militärstrategischen Erwägungen zu diesen „inneren Vorgängen“. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes birgt umfangreiches Beweismaterial, zu dessen Studium Sie sich nicht einmal ins Archiv begeben müssen – Sie finden es online aufbereitet unter http://www.armenocide.de.
Sie befinden sich außerdem im Rechtsirrtum, falls Sie meinen, dass deutsche Strafrecht biete bereits hinreichende Mittel zur Pönalisierung der qualifizierte Genozidleugnung. Der bestehende Strafrechtsartikel §130, Art. 3 bezieht sich lediglich auf die Leugnung nationalsozialistischer Verbrechen und wurde durch die Rechtsprechung gerade des vorigen Jahres weiter aufgeweicht.
Aus diesen Gründen hat die Arbeitsgruppe Anerkennung – gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V. 2008 dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine Petition zur Erweiterung des bestehenden §130 (3) unterbreitet, die seither im Ausschuss anhängig ist; den Wortlaut der Petition finden Sie auf unserer Seite https://www.aga-online.org/aga-beantragt-beim-petitionsausschuss-erweiterung-von-artikel-130-stgb-beantragt/. Die Genozidleugnung bildet nach der Erkenntnis der Fachwissenschaftler die letzte Stufe und sogleich einen integralen Bestandteil des Verbrechens des Genozids. In Deutschland kommt es regelmäßig zur gezielten, provokativen und qualifizierten Genozidleugnung, zuletzt auch an deutschen Einrichtungen des öffentlichen Rechts (Universität Hamburg, Staatliches Völkerkundemuseum München). Der türkische Außenminister erklärte am 24.04.2012 (dem Gedenktag an den Genozid an den Armeniern), sein Land wolle bis 2015 (dem 100. Gedenktag) verstärkt „die Wahrheit“ in Europa verbreiten, was nichts anderes bedeutet, als dass die Zahl der derartiger öffentlicher Leugnungsveranstaltungen gesteigert werden soll. Es kommt bei diesen Veranstaltungen regelmäßig zur Kränkung der Opfer, die als Landesverräter denunziert werden.
Insofern besteht für eine Erweiterung des Strafrechtsartikels 130 (3) auch aktuell Bedarf. Wir erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass zu der türkeistämmigen Gemeinschaft Deutschlands auch zahlreiche armenische und vor allem aramäische Menschen gehören, des Weiteren Nachfahren der Überlebenden des Genozids an den Pontosgriechen. Sie alle erwarten vom deutschen Gesetzgeber den Schutz vor der wiederholten Herabwürdigung ihrer ermordeten Vorfahren.
In einer globalisierten Welt mit quantitativ, wie qualitativ wachsenden Zuwanderergemeinschaften dürfen wir nicht länger davon ausgehen, uns gegen die Geschichte der Zuwanderer und der aus dieser Geschichte erwachsenden Verpflichtungen abgrenzen und abschotten zu dürfen, zumal wenn wir in der Mitverantwortung stehen, wie der Deutsche Bundestag bereits 2005 erkannt hat. Wir hoffen und erwarten darum, dass Sie Ihre Positionen noch einmal überdenken und die Erweiterung des Strafrechtsartikels 130 (3) unterstützen.
Ihrer Antwort sehr gern entgegensehend und freundlichen Grüßen
Dr. Tessa Hofmann
Vorsitzende