In einem Schreiben an den Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert erkundigte sich der Vorstand der Arbeitsgruppe Anerkennung nach dem Stand und der Natur der vom deutschen Gesetzgeber für 2015 geplanten Veranstaltung aus Anlass des Gedenkens an den Genozid an den Armeniern vor fast einhundert Jahren. Zugleich forderte der Vorstand von den Bundestagsabgeordneten, die „vermutlich letzte Chance“ zur Korrektur der Versäumnisse wahrzunehmen, die mit der nicht-legislativen Bundestagsresolution vom 16.06.2005 begangen wurden. Damals verzichtete der Bundestag darauf, die Verbrechen des jungtürkischen Nationalistenregimes als Genozid zu bezeichnen und umschrieb sie stattdessen als „Massaker“ und „Vertreibung“.
AGA erinnert daran, dass diese ausweichende Position weder der Prävention von Genozid dienen kann, noch irgendwie zu der von der früheren Resolution angestrebten „Aussöhnung von Türken und Armeniern“ beigetragen hat.
Berlin, den 02.11.2014
An den
Bundestagspräsidenten
Prof. Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Gedenken an den Genozid an Armeniern und anderen christlichen Volksgruppen im Osmanischen Reich
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Prof. Dr. Lammert,
am 24. April 2015 jährt sich zum einhundertsten Mal das Gedenken an die Massenfestnahme der geistigen, geistlichen und wirtschaftlichen Elite des armenischen Volkes in der damaligen osmanischen Hauptstadt Konstantinopel. Die anschließende brutale Ermordung der ins Landesinnere verschleppten Intellektuellen, Volksvertreter und anderer Notabeln ging als Inbegriff der Vernichtung der Armenier osmanischer Staatszugehörigkeit in das Kollektivgedächtnis der Überlebenden und ihrer Nachfahren ein.
Am 18. September 2014 veröffentlichte die armenische Nachrichtenagentur „Armenpress“ eine Meldung, wonach der CDU/CSU-Abgeordnete und das Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Herr Manfred Grund, mit Ihnen eine Gedenkveranstaltung des Bundestages im Jahr 2015 vorbereitet; auch eine Bundestagsresolution soll angedacht sein.(1) Sollte diese Darstellung zutreffen, würden wir das sehr begrüßen. Denn unsere Menschenrechtsorganisation hat bereits im April 2000 gemeinsam mit türkischen Kollegen eine Massenpetition(2) in den Petitionsausschuss eingebracht, um eine juristisch qualifizierte Stellungnahme über die massenhaften Massaker und landesweiten Deportationen zu erreichen, die während des Ersten Weltkrieges an der christlichen Bevölkerung des Osmanischen Reiches verübt wurden (und zwar nicht nur an Armeniern, sondern ebenso an aramäischsprachigen sowie griechisch-orthodoxen Christen).
Leider hat es der Bundestag in seiner nicht-legislativen Resolution(3) vom 16.06.2005 vermieden, die staatlich geplanten und zu verantwortenden Massaker sowie Todesmärsche als Genozid zu bewerten, obwohl der osmanische Genozid an über 3 Millionen Christen neben der Schoah zur empirischen Grundlage für die Genozid-Definition der Vereinten Nationen wurde. Seine Umschreibung als „Massaker“ und „Vertreibung“ ist seit 2005 wiederholt nicht nur von den Betroffenen, sondern auch von Fachwissenschaftlern aus der Genozidforschung sowie von Menschenrechtlern kritisiert worden. Infolge ihres Ausweichvokabulars konnte die Resolution von 2005 weder zur Prävention weiterer Genozide beitragen, noch eine auf der Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der Geschichte beruhende Aussöhnung des Gesetzgebers und der Gesellschaft der Türkei mit der armenischen Nation erreichen. Genau dies – nämlich zur Aussöhnung zwischen der Türkei und Armenien beitragen zu wollen – diente aber seit 2005 der Bundesregierung zur Begründung für ihr auffälliges Ausweichen vor einer wissenschaftlich wie juristisch eindeutigen Ausdrucksweise.
2013 haben wir den damals im Bundestag vertretenen Parteien aus Anlass der Bundestagswahlen erinnerungs- und geschichtspolitische Wahlprüfsteine übersandt.(4) Von den beiden derzeit in der Großen Koalition vertretenen Volksparteien ist die SPD einer Antwort gänzlich ausgewichen, während die Antwort der CDU/CSU-Fraktion ambivalent ausfiel. So heißt es dort u.a.:
„Allerdings ist es fraglich, ob eine offizielle Bezeichnung der damaligen schrecklichen Vorgänge als Völkermord beziehungsweise Genozid durch den Deutschen Bundestag einen Aussöhnungsprozess zwischen Armeniern und Türken und die historische Aufarbeitung in der Türkei fördern würde. Hier ist eine intensive Prüfung notwendig. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlichen Einschätzung, dass 1915 an den Aramäern (sic! TS) ein Völkermord begangen wurde und auch die Menschenrechte anderer christlicher Gruppen massiv verletzt wurden.“(5)
In den neun Jahren, die seit Verabschiedung der ersten und bisher einzigen Resolution verstrichen sind, hat die Bundesregierung keinen nennenswerten Beitrag zur Aussöhnung zwischen Armeniern und Türken erzielt. Die 2009 angekündigten „armenisch-türkischen Gespräche“ haben sich erwartungsgemäß als das erwiesen, was sie vermutlich seitens der Türkei von Anfang an sein sollten: ein Anlass, um sowohl Zeit zu schinden, als auch in der internationalen Politik als vermeintlich proaktiv zu gelten, ohne in der Sache einen Schritt voranzukommen. Ohnehin kann der Entscheid über historische Verantwortungsannahme nicht allein dem interpretatorischen Belieben von Einzelstaaten überlassen bleiben, die in der Rechtsnachfolge eben desjenigen Staates stehen, der das fragliche Verbrechen gegen die Menschheit verübt hat.
Das Gedenkjahr 2015 bietet dem deutschen Gesetzgeber die vermutlich letzte Chance, endlich eine klare erinnerungs- und geschichtspolitische Haltung gegenüber den Verbrechen an Armeniern, aramäischsprachigen und griechisch-orthodoxen Christen auszudrücken. Diese Klarheit ist nicht nur mit Blick auf Deutschlands Rolle als wichtigstem Militärverbündeten des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg erforderlich, sondern vor allem mit Blick auf die zunehmende Internationalisierung der deutschen Gesellschaft dank Zu- und Einwanderung.
Wir danken Ihnen in diesem Zusammenhang für Ihre klaren Worte während der Veranstaltung des Bundestages am 3. Juli 2014 zum Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkrieges. In Ihrem Redebeitrag erwähnten Sie auch die Vernichtung der Armenier, die bekanntlich hinter den Nebeln dieses Weltkrieges erst möglich wurde.
Wir erhoffen uns gerade von Ihnen die Unterstützung eines erinnerungspolitischen Konzepts für die Gestaltung der kommenden Gedenkveranstaltung des Bundestags, das sowohl historischen, als auch aktuellen Zusammenhängen und Anlässen Rechnung trägt und darum eine völkerrechtlich qualifizierte Bewertung der Massentötungen und Todesmärsche einschließt.
Ihrer Antwort sehen wir mit großem Interesse entgegen und stehen gern auch für ein Gespräch zur Verfügung,
mit freundlichen Grüßen
i.A. des Vorstands
Dr. Tessa Savvidis
c/ Herrn Manfred Grund (MdB CDU/CSU)
Deutscher Bundestag
Platz der Republik 1
11011 Berlin
1) Vgl. http://armenpress.am/eng/news/776686/bundestagum-kkazmakerpvi-qnnarkum-hayoc-cexaspanutyan.html
2) Vgl. den Petitionsaufruf unter https://www.aga-online.org/wp-content/uploads/aga_02.pdf
3) Vgl. den Text der Resolution auf Seite https://www.aga-online.org/wp-content/uploads/BundestagResolution.pdf
4) https://www.aga-online.org/wahlpruefsteine-2013-erinnerungspolitische-aga-anfrage-bei-den-bundestagsparteien/
5) http://www.aga-online.org/documents/attachments/BundestagResolution.pdf