Die bereits jetzt von über 24.000 Menschen in der Türkei und im Ausland unterzeichnete Unterschriftensammlung hat in den Medien, in Webforen sowie in der Gesellschaft der Türkei und ihrer Diaspora eine in ihrem Umfang und ihrer Intensität bisher beispiellose Debatte über die genozidale Vergangenheit des Landes ausgelöst. Unterstützung, aber auch kritische Stimmen kamen aus entgegengesetzten Lagern und aus offenbar ganz unterschiedlichen Motiven. Neben der zu erwartenden vehementen Verurteilung der Aktion durch Nationalisten, der sich auch Regierungschef Erdogan anschloss, kritisierten Menschenrechtler und Genozidforscher, dass der Text zu unbestimmt sei und zudem die Mitopfer der Armenier – Aramäer/Assyrer/Chaldäer sowie Griechisch-Orthodoxe osmanischer Staatszugehörigkeit – unerwähnt lässt, ebenso wie die Opfer des von der Armee der Republik Türkei zu verantwortenden Genozids in Dersim.

Verein der Völkermordgegner e.V. Frankfurt / Main

Soykırım Karşıtları Derneği (SKD); Kontakt : Ali Ertem Tel.: 0049/69/5970813; E-Mail: skd@gmx.net

SKD (Verein der Völkermordgegner e.V.) unterstützt die Unterschriftenkampagne einer Gruppe Intellektueller in der Türkei mit der Überschrift „Ich entschuldige mich“ und ruft seine Mitglieder, Freundinnen und Freunde auf, sich mit ihren Unterschriften an der Kampagne zu beteiligen.

Wenn wir den Aufruf an unserem Verständnis und unserem Grundsatz messen, „das Völkermordverbrechen von 1915 anzuerkennen und im Gewissen der Öffentlichkeit verurteilen“, für den wir uns seit über zehn Jahren einsetzen, dann erleben wir gewiss eine Enttäuschung. Aber in einem Land, in dem man für wiederholt Massenmorde und unzählige Verbrechen begangen hat und wo Entschuldigung und Reue völlig unbekannt sind, bildet diese Initiative eine große Herausforderung. Es ist eine der ungewöhnlichsten Aktionen2 in der Geschichte des „zivilen Ungehorsams“ der Türkei. Wir nehmen mit Respekt zur Kenntnis, dass sich eine Gruppe von Intellektuellen mit Verantwortungsbewusstsein bemüht, ein Verbrechen gegen die Menschheit im Gewissen der Öffentlichkeit zu verurteilen. Deshalb gratulieren wir diesen mutigen Menschen, dass sie in dieser Massenaktion eine führende Rolle spielen.

Während wir ihre gute Tat unter den „türkischen Umständen“ so beurteilen, fühlen wir uns auch verpflichtet, die Fehler und Unzulänglichkeiten ihres Aufrufs offen zu kritisieren und hoffen, dass diese Kritik als Bestandteil unseres Respekts und unserer Solidarität mit ihnen verstanden wird.

Uns ist bewusst, dass der Aufruf nur aus zwei Sätzen besteht. Trotzdem sind wir der Meinung, dass der richtungsweisende Inhalt der zwei Sätze (abgesehen von ihrem Willen) im Zusammenhang mit 1915 für die künftige Beziehung zwischen unserer Gesellschaft und jenen Völkern, die Opfer des türkischen Völkermordverbrechens geworden sind, nicht unterschätzt werden darf .

Sowohl diejenigen, die die „Große Katastrophe“ nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, als auch diejenigen, die sie verleugnen und sogar sagen „Falls erforderlich, werden wir es wieder tun!“ beschäftigen sich mit diesem richtungsweisenden Inhalt.

Aus diesem Grund fassen wir die Fehler und Unzulänglichkeiten des Ausrufs, der aus zwei Sätzen besteht, wie folgt knapp zusammen:

  • Es ist ein schwerwiegender Fehler, den eindeutigen Begriff „Völkermord“ als „Große Katastrophe3“ zu bezeichnen. Wenn damit der armenische Begriff „Meds Jerern” gemeint ist, so versteht das armenische Volk darunter das große Verbrechen, also nur den Völkermord. Aber die heutige Gesellschaft der Türkei, nach fast 100 Jahren Gedächtnisschwund, versteht unter der „Großen Katastrophe“ nichts anderes als das Erdbeben von Düzce-Adapazari-Marmara von 17. August 1999. Aber ob sie sich an das Erdbebenkatastrophe von Erzincan (26. Dezember 1939) erinnert, bleibt ein großes Fragezeichen. Obwohl der türkische Staat seine Bürger dazu zwingt, den Begriff „Völkermord“ immer mit einem berüchtigten „Vorzeichen“, nämlich „angeblicher Völkermord“ („sözde Soykirim“) zu bezeichnen, besitzt allein dieser Begriff für beide Völkern ein und dieselbe Bedeutung.
  • Ein weiterer bedeutender Fehler liegt darin nicht zu erwähnen, dass der türkische Staat jahrzehntelang den Völkermord verleugnet hat und die daraus entstehende Verantwortung nicht wahrnimmt.
  • Eine weitere Unzulänglichkeit ist die Nichtberücksichtigung weiterer Opfer des Völkermordes von 1915 wie Assyrer bzw. Aramäer, Griechen bzw. Pontos-Griechen und Jesiden (Yazdi bzw. Yezidi). Es ist eine Tatsache, dass die Völkermordpolitik auch nach der Gründung der Republik ununterbrochen fortgesetzt worden ist: Die blutige Zerschlagung der kurdischen „Aufstände“ (gemeint sind die verzweifelter kurdischen Versuche der Selbstverteidigung) und die geschürten Pogrome gegen die nicht-islamische Bevölkerung (neben den Christen auch Aleviten und Juden) und die ökonomischen Ausmerzungsversuche wie die „Sondervermögenssteuer“ von 1943 bilden eine Fortsetzung der selben Geisteshaltung. Deshalb muss man sich genauso bei den oben aufgeführten Völkern entschuldigen.

Dem SKD ist bewusst, dass der türkische Staat und die durch ihn kontrollierten Institutionen dieser Kampagne mit rassistischen Diffamierungen entgegnen werden, um zu verhindern, dass das „Völkermordtabu“ gebrochen wird. Aus diesem Grund solidarisiert sich SKD mit den führenden Intellektuellen und den TeilnehmerInnen dieser Kampagne.

Uns ist ebenfalls klar, dass der Aufruf sowohl für die Initiatoren als auch UnterstützerInnen einen Kompromiss darstellt, weil sie über die historische Wahrheit von 1915 unterschiedliche Auffassungen besitzen. Von nun an werden darüber lebendige Diskussionen außerhalb der offiziellen Geschichtsauffassungen geführt. Diese Diskussionen werden dazu beitragen, die Wahrheit über 1915 besser zu verstehen und die Fundamente der offiziellen Geschichtsauffassung zu zerstören.

An diesen Diskussionen werden wir aktiv teilnehmen und deutlich Stellung beziehen. Mit unserer solidarischen Kritik werden wir versuchen, mit hunderten, gar tausenden ehrlichen Menschen eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, um für unser gemeinsames Ziel mit noch mutigeren Schritten voranzuschreiten.

Mit der Veröffentlichung der Kampagne werden außer rassistische Diffamierungen auch aufrichtige Kritiken und andere Auffassungen aufkommen. Diese werden wir mit der Öffentlichkeit teilen, um sie auszuwerten und ein klares Meinungsbild zu verschaffen.

Jedenfalls rufen wir all jene Menschen auf, die die Menschenrechte achten und schätzen, diese Kampagne mit ihrer Unterschrift zu unterstützen.

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